Wirtschaftspolitik der Zeitenwende

Deutschland bremst sich selber aus

Der Standort ist mit China-Konkurrenz, hohen Energiepreisen, US-Zöllen, aufgeblähtem Sozialstaat und technologischem Wandel vielen Problemen ausgesetzt. Die Politik müsste reformieren, sucht ihr Heil aber in der Verschuldung. Ein fataler Fehler, kritisieren Ökonomen.

Deutschland bremst sich selber aus

Deutschland bremst sich selber aus

Bürokratie blockiert die Zeitenwende, Strukturreformen stocken – Finanzmarkt-Roundtable von IW, Deka und Börsen-Zeitung

Der Standort ist mit der Kriegsgefahr, der China-Konkurrenz, den hohen Energiepreisen, den US-Zöllen, dem aufgeblähten Sozialstaat und technologischem Wandel gleich mehreren Problemen ausgesetzt. Die Politik müsste reformieren, sucht ihr Heil aber in der Verschuldung. Ein fataler Fehler, kritisieren Ökonomen.

lz Frankfurt
Von Stephan Lorz, Frankfurt

„Wirtschaftswunder dringend gesucht“, hatte IW-Direktor Michael Hüther ein Slide seiner Präsentation überschrieben, das den Konjunkturrutsch und die Erosion der deutschen Wettbewerbsfähigkeit zeigt. Der Niedergang hat danach bereits 2015 begonnen, doch die Politik ist untätig geblieben. Die Ursachen wurden von ihr eher vernebelt, Reformen verworfen, der Sozialstaat sogar weiter ausgebaut.

Inzwischen ist Deutschland in Europa Spitzenreiter bei den Sozialausgaben, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt. Die Erfolge auf den Exportmärkten verdunsten, der Standort ist zu teuer, Stellen fallen weg, die Abhängigkeiten im Rohstoff- und Technologiesektor nehmen zu. Letzteres ist vor dem Hintergrund der „Zeitenwende“, also des Wiederaufbaus der Wehrkraft nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, fatal.

Mangelnde Zivile Robustheit

Rund ein Drittel der Militärgüter müssen für die Nachrüstung aus den USA bezogen werden, führt Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater an. Es fehlt zudem an vorgehaltenen Kapazitäten, um im Konfliktfall schnell reagieren und die Versorgung hochfahren zu können – von der mangelhaften zivilgesellschaftlichen Robustheit ganz abgesehen.

Hüther und Kater raten zu einem neuen Umgang mit bisher von der Ökonomie „verfemten Begriffen“ wie Industriepolitik. Denn eine Rüstungswirtschaft sei ohne politische Rahmengesetzgebung nicht denkbar, und sei anderen Kräften ausgesetzt als produktive Sektoren.

ESG bremst Rüstungsfinanzierung

Das gilt auch für die Rüstungsfinanzierung, wo es mitunter wegen der ESG-Richtlinien zu Problemen kommt. IW-Ökonom Markus Demary spricht sich dafür aus, die ESG-Regulierung neu zu ordnen. Zudem hält er den Aufbau einer „Nato-Bank“ nach KfW-Vorbild für dienlich. Aber auch insgesamt müssten sich Banken mehr der Rüstung öffnen.

Um Rüstungsausgaben sinnvoller zu investieren und damit sie mehr Wachstumsimpulse liefern, fordern die Ökonomen die pauschale Streichung der Zivilklausel an deutschen Universitäten. Insgesamt müsse mehr in Rüstungsforschung gesteckt werden. Von Spin-Off-Effekten und Dual-Use-Gütern würde dann auch die Gesamtwirtschaft profitieren.

Um die höheren Verteidigungsausgaben langfristig zu sichern, hält der Chefvolkswirt der Bayerischen Landesbank, Jürgen Michels, eine Integration in den Kernhaushalt ganz ohne Kreditfinanzierung für zwingend. Dass die Politik die Kreditschraube allerdings wieder zurückdreht, glaubt auch er nicht. Denn mit der Rüstungsformel, wonach Rüstungsausgaben über 1% des BIP nicht auf die Schuldenbremse angerechnet würden, sei ein Ventil aufgemacht worden, das gerne auch für andere Ausgaben genutzt werde.

Neustart empfohlen

Insgesamt zeigen sich Hüther, Kater & Co. enttäuscht über den Umgang der Politik mit den aktuellen Herausforderungen: Im Rüstungssektor blockiere eine verkrustete Bürokratie das Beschaffungswesens, meint Hüther und schlägt einen Neustart mit einer eigenen Behörde samt Abwicklung der bisherigen Behörde vor. Auch längst überfällige Sozialreformen würden nicht angegangen sondern die Lage noch verschlimmert, wie dieser Tage Ökonomen in einem offenen Brief bezüglich der Rentenpolitik („Haltelinie“) darlegten. Ein Neustart wäre insofern nicht nur beim Militär sondern auch anderswo eine Lösung. Hüther verweist auf den SPD-Wahlsieg 1998, der nur mit der Etablierung einer separaten Wahlkampfeinheit möglich gewesen sei: die „Kampa“ – außerhalb der SPD-Zentrale.