Wirtschaftspolitik

Die Erneuerung der deutschen Wirtschaft ist ins Stocken geraten

Die Dynamik der deutschen Volkswirtschaft lässt seit Jahren dramatisch nach, warnt die Bundesbank. Immer weniger Unternehmen treten neu in den Markt ein, und immer weniger verlassen ihn auch. Das bremst das Wachstum und ist Gift für den Standort.

Die Erneuerung der deutschen Wirtschaft ist ins Stocken geraten

Die Erneuerung der Marktwirtschaft stockt

Studie der Bundesbank zur nachlassenden Unternehmensdynamik in Deutschland und Europa – Gefährliche Entwicklung für den Standort

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die Unternehmensdynamik in Deutschland und Europa ist seit Jahren auf dem Rückzug: Immer weniger neue Unternehmen treten in den Markt ein, aber auch immer weniger Unternehmen verlassen ihn auch. Der Schumpetersche Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ in einer Marktwirtschaft, der für hohen Modernisierungsdruck, für eine ständige Erneuerung des Produktivkapitals in der Volkswirtschaft sorgt und damit auch durch steigende Produktivität den Wohlstand vergrößert, ist ins Stocken geraten. Das bestätigt jetzt auch die Bundesbank im neuen Monatsbericht nach einer statistischen Auswertung vorliegender volkswirtschaftlicher Daten. Der Prozess ist zudem nicht auf Deutschland beschränkt, sondern in weiten Teilen Westeuropas verbreitet.

Innovationsdruck fehlt

Ein Indikator ist die Produktivitätsentwicklung je Arbeitsstunde. Sie ist hierzulande dramatisch gefallen von 4,5% im Jahr 1975 auf inzwischen nur noch knapp 1%. Das ist nach Ansicht von Bundesbank-Ökonomin Elisabeth Falck ein klarer Hinweis auf eine nachlassende „Allokationseffizienz“: Die produktiven Faktoren (Investitionen, Kapital und Menschen) wandern „nicht wie früher an den Platz, wo sie auch die beste Verwendung finden“, sondern verharren am bisherigen Ort. Die Lebendigkeit der Marktwirtschaft siecht damit dahin.

Ein anderer Indikator ist die Zahl der Markteintritte neuer Unternehmen, die für die etablierte Konkurrenz den Wettbewerbs- und Innovationsdruck verstärken. Sie verringert sich ebenfalls – zuletzt noch einmal verstärkt durch Corona. In dieser Zeit wurden schwächere Unternehmen durch finanzielle Hilfen der Bundesregierung am Leben erhalten, sodass auch sie den Platz nicht für neue Wettbewerber freimachen mussten. Die Markteintrittsbarriere wurde immer höher.

Nullzinspolitik bremst Dynamik

Dass für die nachlassende Erneuerung der Volkswirtschaft nicht allein konjunkturelle Impulse ursächlich sind, lässt sich aus den untersuchten Daten ebenfalls herauslesen, wie Bundesbank-Ökonom Oke Röhe darlegt. Denn selbst in Wachstumsphasen war zuletzt nur eine „kraftlose Unternehmensdynamik zu beobachten“. Er führt hierbei die erhöhte Unsicherheit der Marktakteure wegen Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Corona, Ukraine-Krieg an. Außerdem verweist Röhe auf demografische Ursachen sowie Überregulierung, Überbürokratisierung und zu wenig Innovations- und Investitionsaktivitäten.

Verstärkt hat die Entwicklung womöglich auch die Zinspolitik – zumindest in den vergangenen Jahren: Niedrige Zinsen hätten verhindert, dass unprofitable Unternehmen den Markt verlassen hätten, weil sie sich weiterhin hätten günstig refinanzieren können, erklärt Röhe.

Jens Ulbrich, Chefvolkswirt der Bundesbank, spricht angesichts der schwachen Unternehmensdynamik von der „größten wirtschaftspolitischen Herausforderung seit der Wiedervereinigung“. Die strukturellen Fragen, die über Jahre nicht angegangen worden seien, müssten jetzt endlich „ganz nach oben auf die wirtschaftspolitische Agenda“ wandern. Die Steigerung der Produktivität hält er für die deutsche Wirtschaft für existenziell.

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