InterviewOleg Wjugin

„Die Party in Russlands Wirtschaft geht dem Ende zu“

Russland hat gelernt, mit den Sanktionen des Westens umzugehen, und Partner gefunden, mit denen sie umgangen werden können. Doch die Probleme nehmen jetzt massiv zu. Spätestens im nächsten Jahr braucht Moskau Frieden, sagt Oleg Wjugin, Ex-Vize der russischen Notenbank.

„Die Party in Russlands Wirtschaft geht dem Ende zu“

Im Interview: Oleg Wjugin

„Die Party in Russlands Wirtschaft geht dem Ende zu“

Ex-Vizechef der russischen Zentralbank und Multi-Aufsichtsrat über den Umgang des Kremls mit Trump und die Verfasstheit der Wirtschaft

Russland hat gelernt, mit den Sanktionen des Westens umzugehen, und Partner gefunden, mit denen sie umgangen werden können. Doch der Preis steigt – und die ökonomischen Mittel lassen nach. Spätestens im nächsten Jahr braucht auch Moskau Frieden. Ansonsten drohen Strukturen zu brechen, warnt Wjugin.

est Moskau

Herr Wjugin, Sie kennen das russische Establishment gut: Hat die Unberechenbarkeit von Donald Trump, wie wir sie kennen, einen gewissen Stress im russischen Machtapparat ausgelöst?

Nicht wirklich. Es ist auch übertrieben zu behaupten, dass Trump unberechenbar ist. Er bleibt ja sehr konsequent bei seinen strategischen Zielen und will im Fall der Ukraine den Krieg beenden. Er ist einfach ein Meister der Epatage, also der schockierenden Provokation, die er offenbar für ein gutes Mittel zur Verhandlungsführung versteht.

Würden Sie also sagen, dass der Kreml Trump vielleicht sogar besser durchschaut als die Europäer?

Ich denke, dass Trump schon zu Beginn des Verhandlungsprozesses seine Karten hinsichtlich Russlands und der ukrainischen Frage offengelegt hat. Um das zu sehen, muss man nicht besonders intelligent sein.

In Europa herrscht die Ansicht, dass Putin Trump an der Nase herumführt.

Als man in Russland sah, dass Trump an einem umfassenden Deal mit Russland interessiert ist, hat man völlig logisch beschlossen, aus diesem Umstand möglichst viele Vorteile herauszuschlagen. Vielleicht ist das etwas kurzsichtig und führt zu keinen guten Ergebnissen. Einen guten Vorschlag soll man nicht übermäßig ausnutzen.

Oleg Wjugin (72), jahrzehntelang einer der renommiertesten Banker Russlands, war lange Aufsichtsratschef der Moskauer Börse und bis Mitte 2021 gemeinsam mit Gerhard Schröder Aufsichtsrat im landesweit führenden Ölkonzern Rosneft. Einst Stellvertretender Chef der Zentralbank und des Finanzministeriums, sitzt Wjugin heute in mehreren Aufsichtsräten russischer Konzerne. Auch unterrichtet der studierte Mathematiker und Ökonom seit 2007 Finanzwissenschaften an der Moskauer Higher School of Economics. Foto: Bloomberg

Braucht Russland rein wirtschaftlich nicht doch möglichst bald einen Frieden?

Rein wirtschaftlich braucht Russland dieses oder nächstes Jahr einen Frieden.

Würde die Situation dann sofort besser?

Man könnte die Schieflagen korrigieren, die zu einer hohen Inflation und zu einem nötigen zweistelligen Leitzins mit dem Risiko einer Stagnation oder gar Rezession geführt haben. Die Probleme in der Wirtschaft wachsen täglich, solange der Leitzins hoch bleibt. Dieser Tage hat die Zentralbank erklärt, dass sie für 2025 Pleiten großer Konzerne nicht mehr ausschließt. Das sagt sie nicht einfach so. Auch der Wirtschaftsminister, der sich bislang ruhig verhielt, agiert plötzlich aufgeregt und erklärt, dass das erste Quartal sehr schlecht war und das zweite noch schlechter werden könnte. Die Verantwortlichen scheinen sehr beunruhigt zu sein.

Zu Recht?

Die Wirtschaftsdaten sind schlecht.

Es kursiert die Einschätzung, dass eine Fortsetzung des Krieges die Machthaber stärkt.

Ein Waffenstillstand würde die Verhältnisse innerhalb des Machtapparats verändern oder wäre die Folge einer solchen Veränderung. Solange die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine anhält, gibt es ein gewisses Agreement: Die „Tauben“ im Establishment tun alles, damit sich die wirtschaftliche Situation nicht verschlechtert, und die, die kämpfen, sammeln eben dort ihre Punkte.

Ein Frieden würde also diese Stabilität unterminieren?

In einem gewissen Ausmaß ja. Genauer gesagt, er würde neue Herausforderungen schaffen. Vieles wird von der Art des Kompromisses abhängen, wenn einer gefunden wird.

Russland hat gelernt, Sanktionen zu umgehen.

Nun hat die EU das 17. Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet. Wie fasst man das in Russland auf?

Russland hat gelernt, die Sanktionen zu umgehen. Und auch Russlands größte Handelspartner, sprich China und Indien, sehen für sich die Möglichkeit, bei der Umgehung teilweise mitzumachen.

Aber die von den USA angedrohten Sekundärsanktionen – nämlich 500% Zölle gegen Russlands Handelspartner – werden in Russland sehr ernsthaft thematisiert.

US-Sekundärsanktionen sind immer schmerzlich. Ihre Wirksamkeit hängt davon ab, wie hart die USA vorgehen wollen. Vorerst sind sie ein Hebel zur Kompromissfindung.

Wenn ich mir die russische Börse ansehe, so scheint es überhaupt keine Tendenz in der Einschätzung zu geben, wohin es im Ukraine-Krieg geht.

Ja, der Markt befindet sich in der Warteposition. Er hat einfach keine klare Vorstellung, was wirklich vor sich geht.

Heißt, so gut wie niemand hat eine Ahnung, wohin die Reise geht?

Stimmt. Hören Sie sich die Politologen an – da gibt es auch zwei Lager. Das eine erwartet eine Fortsetzung der Konfrontation und eine weitere Verschlechterung, das andere einen baldigen Waffenstillstand. 50:50. Jeder behauptet, was er für wahrscheinlich hält. In Wirklichkeit aber ist es Kaffeesudlesen.

Und wozu tendieren Sie?

Ich bin Ökonom und gehe von ökonomischen Voraussetzungen aus. Für eine Fortsetzung der militärischen Spezialoperation bräuchte es noch mehr wirtschaftliche Ressourcen. Doch es gibt nicht so viele, es sei denn, man nimmt einen schlechteren Lebensstandard und einen Verlust bei den Realeinkommen der Russen in Kauf.

Das russische Wachstum im ersten Quartal betrug nur noch 1,4%. Und zum ersten Mal seit 2022 ging das Wachstum zum Vorquartal zurück. Wovon zeugt das?

Ich würde aktuell weniger auf das Wirtschaftswachstum achten, sondern mehr auf die Industrieproduktion. Sie ist im ersten Quartal gegenüber 2024 nur noch um 1% gewachsen. Dabei muss man klar sehen, dass die Industrieproduktion im Bereich Rüstung ja sehr wohl gestiegen ist. Im zivilen Bereich aber ist sie gesunken. Und diese Schwäche liegt daran, dass die Zentralbank aufgrund der Inflation den Leitzins im Herbst auf 21% erhöht hat.

Kann es zu einer Rezession kommen?

2025 kann es zu einer Rezession kommen. Es hängt alles davon ab, wie das Finanzministerium mit den geringeren Budgeteinnahmen zurechtkommt, während ja ein signifikanter Teil der Ausgaben für die militärische Spezialoperation in der Ukraine vorgesehen ist. Das wird eine der schwierigsten Aufgaben.

Russlands Finanzminister Anton Siluanow sagte, die Russen werden den Gürtel noch enger schnallen müssen.

Es ist die logische Position eines Finanzministers, wenn die Budgeteinnahmen zurückgehen. Den Budgetplan hat er ja schon korrigiert. Manche Ausgaben werden gekürzt, aber bislang nicht sehr gravierende.

Dem neuen Budget zufolge wird sich das Haushaltsdefizit auf 1,7% des BIP verdreifachen.

Ein solches Loch wird man mit den übrigen Mitteln aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds oder mit neuen Staatsschulden nicht mehr stopfen können.

Inzwischen muss man Ressourcen direkt aus der zivilen Produktion abziehen.

Ist die Party der vergangenen Jahre vorbei?

Ja, die Party in Russlands Wirtschaft geht dem Ende zu. Das Jahr 2022 hatte Russland in einem wirtschaftlich guten Zustand begonnen – und zwar dank der hohen Ölpreise, der Reserven im Wohlfahrtsfonds und der Unternehmensgewinne. Das Budget war in einem guten Zustand, signifikante Finanzreserven waren vorhanden. Im Wohlfahrtsfonds lagen 130 Mrd. Dollar. Jetzt sind fast alle Reserven aufgebraucht. Um die Ausgaben für die militärische Spezialoperation zu erhöhen, müsste man Ressourcen direkt aus der zivilen Produktion abziehen. Das ist heute die aktuelle Frage.

Hat Russland die Wahl schon getroffen?

Soweit ich es verstehe, findet ein gewisser Prozess in diesen Fragen statt. Denn die Gefahr ist groß, dass immer mehr Unternehmen pleitegehen, weil sie aufgrund der hohen Kreditzinsen keinen Gewinn mehr machen.

Der Kreml beteuerte immer, dass die westlichen Sanktionen keinen Effekt haben. Aber bei allen Gesprächen mit den USA besteht er darauf, dass die Sanktionen aufgehoben werden.

Die Sanktionen werden – auch mit Hilfe von Ländern wie China – umgangen. Aber es zeigt sich auch ein anderer Faktor: Die Umgehung hat einen gewissen Preis. Und dieser Preis ist deutlich gestiegen. Ohne Sanktionen würde Russland mehr mit seinen Exporten verdienen.

Nicht alle befreundeten Staaten wollen wertvolle Technologien mit Russland teilen.

Ein eigener Punkt sind die Sanktionen auf den Technologietransfer. Wie folgenschwer sind sie?

Schwer zu sagen, denn im Prinzip werden auch sie umgangen. Andererseits sind auch nicht alle sogenannten befreundeten Staaten bereit, wertvolle Technologien mit Russland zu teilen. China etwa liefert lieber fertige Produkte. Der Iran hat am Anfang offensichtlich Technologien zum Bau von Drohnen geliefert, obwohl das keine sehr hochwertige Technologie ist und Russland sie auch selbst hat.

Kommen wir noch zum Rubel, der sich seit Jahresbeginn so stark verteuerte wie keine zweite Währung – und sogar stärker als Gold. Wie kann das sein, wo doch der Ölpreis gefallen ist?

Der hohe Leitzins spielt hier natürlich seine Rolle. Es ist einfach vorteilhaft, Fremddevisen in Rubel zu konvertieren. Auch bringt es wenig, Fremddevisen im Ausland zu halten, wenn man auf Rubelkonten in Russland über 20% Zinsen erhält. Außerdem findet inzwischen ein Großteil des Außenhandels nicht mehr in Dollar oder Euro, sondern in Rubel und Yuan statt. Man braucht also den Dollar nicht mehr in dem Ausmaß wie früher.

Die Leute halten das Geld lieber auf der Bank, um hohe Zinsen zu bekommen.

Bemerkenswert auch, dass der Import kaum noch wächst. Eigentlich müsste ihn ein starker Rubel ja ankurbeln.

Vielleicht kurbelt er ihn noch an. Aber es muss auch die Nachfrage dafür da sein. Derzeit ist das nicht der Fall, weil das Lohnwachstum ziemlich stark nachlässt und die Leute deshalb vielleicht schon zurückhaltender bei den Ausgaben sind. Im ersten Quartal sind die Einnahmen der Privathaushalte um 10,5% gestiegen – so stark stiegen aber auch die Preise im Jahresvergleich. Und die Leute halten das vorhandene Geld lieber auf der Bank, um hohe Zinsen zu bekommen. Das Ausmaß der Privateinlagen auf den Banken hat hohe 60 Bill. Rubel (670 Mrd. Euro) erreicht – das wirft im Jahr etwa 12 Bill. Rubel allein an Zinsen ab.

Die USA wollen wirtschaftlich mit Russland zusammenrücken. Bemerken Sie bereits mehr Aktivität von US-Unternehmen in Russland?

Bislang nicht.

Ist Donald Trumps Plan, Russland aus der Umarmung Chinas zu befreien, realistisch?

Erstens: Gibt es diesen Plan in der Realität überhaupt? Und ist er, wenn man an ihn glaubt, realistisch? Zweitens: Die USA könnten China als Handelspartner der Russen nicht ersetzen, denn sie können kein bilaterales Handelsvolumen von 250 Mrd. Dollar mit Russland erbringen und gewährleisten.

Europa könnte es.

Ja. Aber Europa ist hier ja nicht auf der Seite der USA und will ja auch kein russisches Gas mehr kaufen. Also ist der US-Plan vorerst nur Theorie.

Die Wirtschaftselite ist nicht politisiert.

Ist es den russischen Unternehmen egal, mit wem sie handeln? Oder wollen sie wieder mehr mit dem Westen arbeiten?

Für die russischen Exportunternehmern wäre es natürlich vorteilhaft, wenn sie wieder alle Möglichkeiten zur Diversifizierung ihres Exports erhielten. Diejenigen Unternehmen aber, die die russische Binnennachfrage bedienen, ziehen eine vom Westen abgeschottete Ökonomie vor, weil sie keine Konkurrenz wollen. Darüber sprachen sie kürzlich sehr erfolgreich mit Präsident Putin. Sie würden gern den Wiedereintritt westlicher Unternehmen beschränken und Monopolisten oder Semimonopolisten bleiben. Dieser Wunsch ist nicht neu.

Also herrscht hinsichtlich eines möglichen Friedens mit der Ukraine in der russischen Wirtschaftswelt auch keine einheitliche Position?

Die Wirtschaftselite ist insgesamt nicht politisiert. Niemand von ihnen äußert bei Treffen mit den politischen Entscheidungsträgern seine politischen Positionen oder Vorlieben.


Das Interview führte Eduard Steiner.