NOTIERT IN SCHANGHAI

Die Schanghai-Scheidung als Beweis der ewigen Treue

Vor den Standesämtern in Schanghai drängen sich in diesen Tagen die Massen. Die fröhlich schwatzenden Pärchen können es gar nicht erwarten, endlich an die Reihe zu kommen. Manche sind schon im Morgengrauen aufgestanden, um noch rechtzeitig an die...

Die Schanghai-Scheidung als Beweis der ewigen Treue

Vor den Standesämtern in Schanghai drängen sich in diesen Tagen die Massen. Die fröhlich schwatzenden Pärchen können es gar nicht erwarten, endlich an die Reihe zu kommen. Manche sind schon im Morgengrauen aufgestanden, um noch rechtzeitig an die begrenzten Plätze beziehungsweise an ein Schalterticket heranzukommen. Es sieht ganz danach aus, als wollten sich in Schanghais Spätsommer besonders viele Paare das Jawort geben.Bei näherem Hinsehen aber lässt sich ein untypisch hohes Durchschnittsalter der Antragsteller nicht verkennen. In der Tat handelt es sich bei der ungeduldigen Meute auch nicht um Heiratswillige, sondern um gestandene Eheleute, die nun Schlange stehen, um ihre Scheidungspapiere einzureichen und den Bund fürs Leben im besten gegenseitigen Einvernehmen möglichst rasch wieder aufzulösen.Scheiden tut bekanntlich weh, und Scheidungsverfahren pflegen in westlichen Ländern selbst bei friedlichen Trennungen mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden zu sein. In China aber, wo bekanntlich alles ein wenig anders ist, sind einvernehmliche Ehetrennungen ein rascher, unbürokratischer und kostenfreier Akt, für den es kaum eine Stunde braucht. In Verbindung mit den Wirrungen des chinesischen Immobilienmarktes kann eine gut organisierte und abgestimmte Scheidung sogar das Highlight einer harmonischen Lebens- und Finanzplanung eines Paares abgeben. *Der jüngste Run auf die Standesämter in Sachen Eheauflösung geht auf Gerüchte zurück, dass Beschränkungsmaßnahmen zur Dämpfung des spekulativen Immobilienpreisauftriebs verschärft werden und im September eine neue Regel greifen würde, nach der geschiedene Paare eine einjährige Abkühlungsfrist einhalten müssen, bevor einer der Partner berechtigt ist, eine zweite Immobilie zu erwerben. Zudem gibt es die Kunde von neuen steuerlichen Regeln, die Familien mit Immobilienbesitz empfindlich treffen könnten. Damit gilt es rasch zu handeln, um sich noch zu einem Zeitpunkt zu trennen, zu dem man in Sachen Nutzung der Vorteile spekulativer Immobiliengeschäfte voll handlungsfähig und auf der Höhe bleibt.Nach den Spielregeln in Schanghai, wo die Immobilienpreise in den letzten Jahren durch die Decke gegangen sind, sind Familien auf maximal zwei Eigentumswohnungen beschränkt, während Alleinstehende nur eine Wohnung haben dürfen. Freilich aber dürfen die Partner bereits bestehende Wohnungen in eine Ehe mit einbringen.Für Paare, die zwar genügend Kapital haben, um im zuletzt wieder boomenden Immobilienmarkt mitzumischen, aber ihr Wohnungskaufkontingent ausgereizt haben, gibt es nur eine probate Lösung: Man überträgt alle Objekte der Familie auf einen der Partner und lässt sich flugs scheiden. Dann darf der nun ohne Immobilie dastehende Single erneut mit einem Wohnungskauf zuschlagen.Kaum ist diese Transaktion über die Bühne gegangen, haben die frisch Geschiedenen nichts Besseres zu tun, als sofort wieder zu heiraten und sich künftig der flotten Wertentwicklung der nun neu in den Familienbesitz hinzugekommenen Immobilie zu erfreuen. *Die Scheidung mit Immobilienhintergrund ist übrigens der größte Liebes- und Treuebeweis, den sich Eheleute gegenseitig erweisen können. Denn wer Zweifel an seinem Partner hegt, wird ihm sicherlich keine Immobilie übertragen wollen und das Risiko eingehen, dass dieser sich bedankt und nach der Scheidung kein Interesse an einer Wiederheirat mehr zeigt.Die Sache mit der einjährigen Wartefrist hat sich übrigens als eine gezielte Falschinformation erwiesen, mit der eine Reihe von Schanghaier Immobilienmaklern das kurzfristige Geschäft zu beleben versuchten. Großes Aufatmen unter Schanghais spekulationsfreudigen Ehepaaren. Nun kann man wieder in Ruhe den Markt beobachten und unaufgeregter über strategische Trennungen und Wiederaufnahmen des Bundes fürs Leben befinden. Mit einer guten Scheidung ist es ja wie mit einer guten Heirat: Man sollte bloß nichts überstürzen.