Im InterviewVítor Constâncio

„Die Zentralbanken sollten ernsthaft erwägen, ihr Inflationsziel auf 3% anzuheben“

Der Ausgang der wegweisenden EZB-Zinssitzung am Donnerstag ist völlig offen. Die Börsen-Zeitung hat mit Vítor Constâncio, Ex-EZB-Vizepräsident, über Teuerung, Bilanzabbau und Inflationsziele gesprochen.

„Die Zentralbanken sollten ernsthaft erwägen, ihr Inflationsziel auf 3% anzuheben“

Herr Constâncio, muss die EZB ihre Leitzinsen weiter anheben, und wenn Ja, bereits jetzt am Donnerstag, oder hat sie bereits genug getan?

Die Geldpolitik geht gegen die Inflation vor, indem sie die Zinssätze erhöht, um die Wirtschaftstätigkeit zu bremsen oder sogar eine Rezession herbeizuführen, um die Lohn- und Preisentscheidungen der inländischen Wirtschaftsakteure zu zähmen. Nach Zinserhöhungen um 425 Basispunkte sehen wir nun, dass die Eurozone im ersten Halbjahr nicht gewachsen ist und auf eine Rezession zusteuert. Normalerweise ist eine Zinserhöhung in einer Rezession nicht notwendig, aber ich glaube, dass sie stattfinden wird.

Wie sollte die EZB reagieren, falls die Eurozone nun in eine Rezession rutscht, während die Inflation immer noch deutlich zu hoch liegt?

Die Inflation ist zurückgegangen, und die Rezession wird diese Entwicklung noch verstärken. Die Zentralbanken sollten ernst nehmen, was sie über das mittelfristige Inflationsziel sagen und dass die Geldpolitik zeitverzögert wirkt. Sie sollten ihre Entscheidungen nicht nur auf der Grundlage der aktuellen Inflationsrate treffen. In einer Stagflation sollten sie aufhören, die Zinssätze zu erhöhen, und bedenken, dass die Geldpolitik schon restriktiver wird, weil die realen Zinssätze steigen.

Parallel zu den Zinserhöhungen reduziert die EZB ihre aufgeblähte Bilanz. Braucht es dabei mehr Tempo oder ist das aktuelle Vorgehen angemessen – oder aktuell sogar zu viel?

Der notwendige Abbau der Bilanz muss aus Stabilitätsgründen schrittweise erfolgen. Wenn es sich nicht um Anleiheverkäufe handelt, sondern nur um den Verzicht auf die Reinvestition fällig werdender Wertpapiere, ist das Tempo des Bilanzabbaus für die Inflationsbekämpfung unerheblich. Diejenigen, die an die Rolle der Geldmengen in Bezug auf die Inflation glauben, sollten sich daran erinnern, dass M1 bereits um –9,2% gesunken ist und selbst das breiteste Aggregat, M3, zuletzt um –0,4% gesunken ist.

Wie schätzen Sie den mittel- und langfristigen Inflationstrend im Euroraum ein? Droht strukturell eine höhere Inflation oder eine Rückkehr zur Disinflation wie vor der Pandemie?

Mittelfristig wird die Inflation dazu neigen, über 2% zu steigen. Triebkräfte sind ein leichter Rückgang der Globalisierung, das langsame Wachstum der europäischen Produktivität und ein gewisser Arbeitskräftemangel, der die Löhne treibt. Langfristig ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich die kommende Innovationswelle auf das Produktivitätswachstum auswirkt. Das BIP-Wachstum wird aber nicht sehr stark sein, da die Überalterung und die zunehmende Ungleichheit zu einem strukturellen Nachfragedefizit führen werden.

Sollte die EZB perspektivisch ihr Inflationsziel von 2,0% anheben oder zumindest eine Art Toleranzband einführen?

Jetzt ist dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Nach Überwinden der aktuellen Inflationswelle sollten die Zentralbanken aber ernsthaft erwägen, ihr Ziel auf 3% anzuheben. Erstens würde es angesichts der strukturellen Gründe, die die Inflation nach oben treiben, das Wachstum unnötig behindern, wenn man ihnen mit einer dauerhaft restriktiven Geldpolitik begegnet. Zweitens werden bei 3% die Zinssätze seltener an die Nullgrenze sinken. Drittens wird ein solches Ziel mehr Spielraum eröffnen, auf Rezessionen zu reagieren.

Die Fragen stellte Mark Schrörs