Ein dreispuriges Weltkulturerbe
Alles neu macht der September. Denn in Brüssel bedeutet die “Rentrée”, also die Rückkehr aus dem Urlaub und der Beginn des neuen Schuljahrs, den eigentlichen Zeitensprung im Jahresverlauf – mehr noch als Silvester. Schließlich ist Brüssel die Hauptstadt der “Expats” – der aus anderen EU-Staaten entsandten Arbeitnehmer, die allein oder mit ihrer Familie ihr Heimatland vorübergehend gegen ein Gastland eintauschen. In den Stadtteilen und Vororten im reichen Südosten der Stadt machen die Drei-Jahres-Brüsseler oder die Fünf-Jahres-Tervurener mancherorts mehr als 20 % der Einwohnerschaft aus. Das merkt man etwa in Woluwe-Saint-Lambert, wo so viele Briten beheimatet sind, dass man sich im Supermarkt mit seinem Einkaufswagen besser auf der linken Spur hält. Oder auch auf dem “Sauerkrauthügel” in Wezembeek-Oppem, wo die Straßen sonntags abends nach acht wie leer gefegt sind, weil alle “Tatort” schauen. *Von diesen Expats verlassen zwar im Juli fast alle ihre Wahlheimat, aber Ende August kehren nur drei Viertel von ihnen wieder nach Brüssel zurück. Denn die Fluktuation ist riesig. Der September ist darum der Monat, in dem in Brüssel Schüler neue Lehrernamen und Lehrer neue Schülernamen lernen – und sich die Neuankömmlinge erst einmal im exotischen Gastland kulturell akklimatisieren. Das fängt damit an, dass die Neubelgier – volkstümlich: die “demi-frites” – sich daran gewöhnen müssen, dass man in der Metzgerei erst bedient wird, wenn man eine Nummer gezogen hat, selbst wenn kein anderer Kunde im Laden ist. Dass man Bierflaschen besser nicht mit dem Öffner aufzumachen versucht, weil sie in Belgien meist Drehverschlüsse haben. Oder dass es gefährlich ist, an Zebrastreifen zu halten, um Fußgänger über die Straße zu lassen, weil viele Belgier überzeugt sind, die weißen, gemaserten Streifen seien nur aus dekorativen Gründen auf die Straße gemalt.Die anspruchsvollste Aufgabe für die “Neuen” ist es freilich, im Heimatland des Surrealismus und der Subkultur Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden – und herauszufinden, wann es sich bei dem, was sie erzählt bekommen oder was in den Medien gemeldet wird, um Tagesnachrichten handelt und wann um ausgedachte Geschichten. Denn die westlichen Nachbarn der Deutschen haben eine ausgeprägte Leidenschaft für Wanderlegenden. Zu den traditionsreichsten dieser hanebüchenen Revolvergeschichten zählt etwa die Behauptung, die belgischen Autobahnen seien wegen ihrer Dauerbeleuchtung neben der Chinesischen Mauer das Einzige, was man vom Mond aus mit bloßem Auge auf der Erde erkennen könne. Berühmt-berüchtigt ist zudem die – natürlich ebenfalls frei erfundene – Geschichte, dass sich der Architekt des Rathauses auf der Grand’ Place vom Turm gestürzt habe, als er nach Ende der Bauarbeiten feststellen musste, dass der Turm nicht mittig angeordnet war. Erstunken und erlogen ist schließlich auch die Behauptung, die belgische Fahne auf dem Königspalast in der Innenstadt wehe nur, wenn Philippe gerade dort sei – ein schwacher Trick der Reiseführer, um die Touristen hoffen zu lassen, das Staatsoberhaupt könne jeden Moment zufällig auf dem Balkon erscheinen. *Schwieriger wird es, zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden, wenn es um das Thema Verkehr geht. Denn der hat in Belgien ohnehin oft etwas Unglaubliches. Dass es in Brüssel Banden gebe, die bewusst an Kreuzungen ohne klares Vorfahrtsregime von rechts in den Verkehr sausen, um Unfälle zu provozieren und Kunden in Werkstätten zu locken, mag man ja noch bezweifeln. Die Meldung allerdings, dass Polizisten jüngst bei einer Alkoholprobe ein Auto aus Großbritannien stoppten und den Beifahrer pusten ließen, soll jedoch Nachrichtenagenturen zufolge tatsächlich nicht erfunden sein. Und wahr ist auch die ganz aktuelle Geschichte, dass es in Belgien eine Kampagne gibt, die hiesigen rekordlangen Staus als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen. Eine solche Initiative gibt es tatsächlich. Allerdings nur aus Werbezwecken – und zwar von der belgischen Bahn.