Ernüchterte Russen bleiben zu Hause
Die Zahlen und Prognosen, die in den vergangenen Tagen zu Russlands Makroökonomie bekannt geworden sind, haben es durchaus in sich. Gut, diesbezüglich positive Nachrichten hatte ohnehin niemand erwartet. Aber vor dem Hintergrund der Durchhalteparolen, die Kremlchef Wladimir Putin regelmäßig ausgibt, sorgen sie doch für weitere Ernüchterung. Die Stagnation setzt sich fort, teilte das Statistische Zentralamt Rosstat am Freitag mit. Auch laut Wirtschaftsministerium stand die Wirtschaft saisonbereinigt im dritten Quartal still wie schon im zweiten Quartal, nachdem sie im ersten Quartal um 0,5 % gesunken war. Die Zentralbank wiederum hat ihre Prognose für das Gesamtjahr von 0,4 auf 0,3 % gekappt. Die renommierte Moskauer Higher School of Economics geht in ihrem jüngsten Bericht davon aus, dass der “Übergang von der Stagnation zur Rezession das wahrscheinlichste Szenario bleibt” – und zwar für Anfang 2015.Der international angesehene Ex-Finanzminister Alexej Kudrin, der Vater des russischen Stabilisationsfonds, sieht keine einfachen Rezepte mehr, um aus der wirtschaftlichen Krise herauszukommen. Um die früheren Möglichkeiten für Auslandsinvestitionen und das Vertrauen in den rapide gefallenen Rubel wiederherzustellen, brauche es sieben bis zehn Jahre, schrieb er in einer Analyse: Derzeit befinde sich Russland in einem Übergangsstadium von zumindest drei bis vier Jahren Stagnation. Die Unternehmen würden ihre Investitionen weiter zurückfahren. Die Leute würden ihr Verhalten ändern, beim Konsum zurückstecken und für härtere Zeiten sparen.Das ist in der Tat eine Trendwende. Zwar ging es schon in den Jahren der Finanzkrise nicht mehr so steil bergauf wie in der Boomphase der Rohstoffhausse bis 2008. Aber real konnten sich die Menschen noch über einen Einkommenszuwachs freuen. Der hat sich seit Kurzem verflüchtigt. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Intelligent Research for Growth (IRG) sprechen 49 % der Bürger von einer Verschlechterung ihrer finanziellen Situation. 69 % wollen weniger ausgeben.Selbst im sonst recht stabilen Luxussegment geht die Nachfrage zurück. Laut Daten des internationalen Strategieberaters Bain & Co. und der Assoziation der Luxusgüterproduzenten Findazione Altagamma werde Russlands Markt für Luxuswaren, der zehntgrößte weltweit und der fünftgrößte in Europa, 2014 um 18 % auf 4,6 Mrd. Euro fallen. Der Grund sei gar nicht unbedingt Geldmangel, sagen Marktteilnehmer: Der Optimismus verringere sich, die Ungewissheit wegen der Zukunft werde größer.Die derzeit sichtbarste Trendwende vollzieht sich bei Auslandsreisen in der bevorstehenden Wintersaison. Und auch wenn vor allem der Wertverlust des Rubel, der gegenüber dem aus Euro und Dollar bestehenden Währungskorb seit Jahresbeginn um über 33 % gefallen ist, die Lust am Verreisen trübt, so ist dies um nichts weniger signifikant und einschneidend. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts waren die Russen zum Renner der Wintersaison geworden. Gar nicht, weil sie so viele sind, schließlich machen sie in den Alpenländern gerade mal an die 2 % aller Touristen aus. Aber die russischen Reisenden geben eben gerne viel aus – und wurden seit über einem Jahrzehnt jährlich immer mehr.Bis jetzt. Denn wie die russische Wirtschaftszeitung “Wedomosti” vor einigen Tagen unter Berufung auf Maja Lomidze, Geschäftsführerin der Assoziation russischer Reiseveranstalter, berichtete, verzeichnet die Branche einen Rückgang der Buchungen um knapp die Hälfte. Die Zahlen betreffen dabei kein Urlaubsland speziell, sondern insgesamt die Urlaubsplanung für den Winter und vor allem die Winterferien, die in Russland auf die ersten beiden Januarwochen fallen. Laut Lomidze gab es im Unterschied zu den Vorjahren im August und September überhaupt keine Frühbuchungen. Jetzt würden sie schleppend verlaufen. Aber selbst wenn gegen Ende des Monats voraussichtlich aktiver gebucht werde, sei ein Rückgang um 25 bis 30 % für die gesamte Saison zu erwarten. Im Gegensatz zu den bisher üblichen Fernreisen sind nun allerdings Inlandsdestinationen plötzlich en vogue. Weil sie im Vergleich zu Europa jetzt günstiger sind. Und weil die westlichen Sanktionen den Patriotismus genährt haben.