Haushaltsregeln

EU-Kommission plädiert für realistischere Verschuldungsregeln

In der Coronakrise wurden die Schuldenregeln der Europäischen Union vorübergehend ausgesetzt. Die Debatte, in welcher Form sie wieder eingesetzt werden sollen, steht in den Startlöchern. Doch die EU-Kommission will an Maastricht nicht rütteln.

EU-Kommission plädiert für realistischere Verschuldungsregeln

ahe Brüssel

In die Debatte um eine Reform der derzeit ausgesetzten EU-Haushaltsregeln kommt neue Bewegung. EU-Haushaltskommissar Paolo Gentiloni plädiert für mehr Realismus angesichts der aktuellen Schuldenstände und fordert auch Erleichterungen für Investitionen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung stellte er zugleich aber auch klar, dass die Kommission an den in den EU-Verträgen festgehaltenen Maastricht-Schuldenkriterien nicht rütteln will.

„Die Grenzen stehen in den EU-Verträgen, und die Kommission ist die Hüterin der Verträge“, betonte Gentiloni. „Aber wir müssen überlegen, wie wir mit den höheren Schuldenständen nach der Pandemie umgehen.“ Die Grenze bei der Staatsverschuldung von 60% müsse das Ziel bleiben, weil es so in den Verträgen stehe. „Doch wir müssen über den Pfad zu diesem Ziel diskutieren, über die Regeln, die für Staaten gelten, die deutlich darüberliegen.“

Als die 60%-Obergrenze eingeführt wurde, sei dies mehr oder weniger der Schulden-Durchschnittswert der EU-Staaten gewesen, sagte Gentiloni und verwies darauf, dass der Durchschnitt in der Eurozone heute – auch aufgrund der Coronakrise – bei über 100% liege. Für die anstehende Reform bedeute dies nach seinen Worten: „Wir brauchen Regeln, die man auch durchsetzen kann. Ich möchte nicht als EU-Kommissar die nächsten Jahre damit verbringen, mir zu überlegen, wie ich die Regeln doch nicht anwenden muss, weil sie unrealistisch sind. Ich möchte die EU-Verträge einhalten, und ich möchte die richtige Art und Weise finden, die Einhaltung durchzusetzen.“ Reformen sollten die Aufsicht der Kommission nicht nachgiebiger machen, sondern wirksamer.

Nach Angaben von Gentiloni werden die politischen Diskussionen über die Haushaltsregeln und den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) offiziell in wenigen Wochen wieder neu aufgenommen. Bis die Kommission dann Reformvorschläge vorlege, würden dann aber noch ein paar Monate vergehen. „Wir brauchen Konsens unter den Euro-Staaten“, unterstrich der Italiener. „Wir können das Verfahren nicht mit einem Vorschlag beginnen, er kann nur am Ende das Ergebnis sein.“

Fokus auf Investitionen

Nach den Worten von Gentiloni muss es in dem Prozess auch darum gehen, die Regeln so zu gestalten, dass sie staatliche Investitionen in den Klimaschutz unterstützen. Nach der letzten Krise seien die Netto-Investitionen der Euro-Staaten für ein Jahrzehnt auf null gesunken. Die Regierungen hätten bei den Investitionen gespart. „Das darf sich nach der jetzigen Krise nicht wiederholen, vor allem nicht, wenn wir unsere Ziele beim Klimaschutz und dem digitalen Wandel ernstnehmen.“

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) verwies in einer aktuellen Analyse ebenfalls auf die Bedeutung von Investitionen bei einer Anpassung der Fiskalpolitik. Laut Berechnungen des DIW wäre eine Rückkehr zu den Maastricht-Kriterien über eine von starren Kriterien erzwungene Austeritätspolitik schädlich und zwar nicht nur für die stark verschuldeten Länder, sondern auch für die wirtschaftlich starken: „Eine Fiskalpolitik hingegen, die auf Investitionen setzt, käme der Gemeinschaft als Ganzer zugute – vor allem dann, wenn das Zusammenspiel zwischen Geld- und Fiskalpolitik koordiniert ist.“

Die künftige Bundesregierung sollte sich nach Ansicht der Wirtschaftsforscher daher für eine gemeinsame EU-Fiskalpolitik stark machen. Sie würde damit in ihrem eigenen Interesse handeln, wenn sie sich auf EU-Ebene für eine Überarbeitung des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts einsetze. Nach Ansicht des DIW sollte sich die künftige Bundesregierung nach dem EU-Wiederaufbaufonds auch konstruktiv in eine Debatte über weitere fiskalpolitischen Innovationen einsetzen.

Es sei abzusehen, dass sich die Erholung wegen der weiterhin bestehenden Unsicherheiten langsamer als erwartet entwickelt und weitere Impulse benötigt würden, hieß es. „Gerade jetzt wäre die Zeit reif für eine europäische Fiskalpolitik, und diese sollte die neue Regierung vorantreiben, statt an starren Vor-Corona-Regeln festzuhalten.“