Europas Industrie fordert Verlängerung der CO2-Freizertifikate
Europas Industrie fordert Verlängerung der CO2-Freizertifikate
Industrie schickt Brüssel Brandbrief
79 europäische Konzerne fordern Verlängerung der CO2-Freizertifikate
Reuters/ba Frankfurt
Ein Bündnis europäischer Industriekonzerne – darunter BASF, Evonik, ThyssenKrupp und Voestalpine – warnt angesichts der EU-Klimapolitik vor einer Verlagerung energieintensiver Produktion in Länder außerhalb der Europäischen Union (EU). In einem Schreiben, das Reuters und der Börsen-Zeitung vorliegt, appellieren die Konzerne an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und weitere Entscheidungsträger, den EU-Emissionshandel (ETS) grundlegend zu reformieren. Der aktuelle Reduktionspfad stelle für viele Unternehmen „eine praktisch nicht lösbare Herausforderung“ dar, heißt es in dem Brief.
Der ETS sieht vor, die kostenlose Zuteilung von CO2-Zertifikaten von 2026 bis 2034 schrittweise abzuschaffen und bis 2039 Nullemissionen zu erreichen. Die daraus entstehenden CO2-Kosten könnten sich laut der aus 79 Unternehmen bestehenden Allianz auf mehrere Milliarden Euro jährlich belaufen und in vielen Fällen den operativen Gewinn der Firmen übersteigen. Dies gefährde nicht nur einzelne Investitionsprojekte, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Basis Europas insgesamt.
Die Konzerne aus den energieintensiven Branchen wie Chemie oder Stahl fordern daher, die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten über die geltenden Fristen hinaus zu verlängern und die Abschmelzung der Freizuteilung durch den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) auszusetzen. Zudem müsse die Strompreiskompensation ausgeweitet werden. Das Schreiben, das auch an EU-Ratspräsident Antonio Costa sowie Mitglieder der deutschen und österreichischen Bundesregierung ging, soll vor dem Treffen des Europäischen Rates am 23. Oktober den politischen Druck erhöhen.
Merz will Chemie- und Stahlindustrie unterstützen
Bundeskanzler Friedrich Merz will indes alles unternehmen, um die Chemie- und Stahlindustrie in Deutschland zu halten, wie ihn die Nachrichtenagentur Reuters zitiert. „Wenn wir Industriestandorte in Deutschland behalten wollen, dann brauchen wir zwei Industrien wie kaum eine andere als Grundstoffindustrie“, sagte der CDU-Vorsitzende am Montag in Hannover bei der Industriegewerkschaft IGBCE. Dies seien die chemische Industrie und „wenigstens in gewissem Umfang“ die Stahlindustrie. "Diese beiden Industrien brauchen wir in Deutschland, und ich werde alles tun, um sie am Standort zu halten." Merz warnte, dass Deutschland derzeit nicht die nötige Wettbewerbsfähigkeit habe, die Regierung aber die Rahmenbedingungen verbessern wolle.
Man brauche etwa neue Gaskraftwerke, um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, weil der Bedarf noch nicht mit Erneuerbaren Energien gedeckt werden könne – und gerade die chemische Industrie sei auf eine sichere Energieversorgung angewiesen. Man habe dazu Genehmigungsverfahren in Brüssel angestoßen. Zudem werde sich die Bundesregierung auch für Änderungen bei der EU-weiten Zuteilung von CO2-Zertifikaten einsetzen. „Wir werden auch über den vorgesehenen Zeitraum hinaus (CO2-)Zertifikate zuteilen müssen, damit die Industrie die Chance hat, sich an diesen Prozess zu gewöhnen“, mahnte er laut Reuters. „Und bevor nicht dieser Mechanismus funktioniert, macht es keinen Sinn, unsere Industrie in Europa mit noch höheren Kosten zu belasten.“
Milliarden an Zusatzkosten
Der österreichische Stahl- und Verarbeitungskonzern Voestalpine rechnet etwa damit, dass er statt der derzeit jährlich ca. 200 Mill. Euro bis einschließlich 2030 zusätzlich 1 bis 2 Mrd. Euro für den steigenden Zertifikatebedarf aufwenden müsste. Voestalpine-Chef Herbert Eibensteiner bezeichnete den Brief daher als „Weckruf an die europäische Politik“. Mit Blick auf die kostenlosen Zertifikate sagte er: „Wir dürfen einen etablierten und funktionierenden Schutzschirm nicht verlieren.“ Ohne diese Maßnahmen drohe die weitere Verlagerung energieintensiver Produktionsschritte mit negativen Folgen für Beschäftigung, Wertschöpfung und Klimaschutz.
Die Unternehmen betonen, sie stünden zu einem ambitionierten Klimaschutz und investierten bereits erheblich in die Transformation. Allerdings seien die dafür notwendigen Rahmenbedingungen bis Mitte der 2030er Jahre nicht gegeben. Es fehle an ausreichend verfügbarem CO2-armem Strom und Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen sowie an der nötigen Infrastruktur. „Die Transformation darf nicht zur Deindustrialisierung führen – sie muss wirtschaftlich tragfähig und technologisch realistisch gestaltet werden“, heißt es in dem Schreiben. Die beteiligten Unternehmen stehen alleine in Europa in Summe für rund 500.000 Mitarbeiter.