Gas-Notfallplan auf Messers Schneide
Als der russische Energiekonzern Gazprom Anfang Juli zu Wartungszwecken den Gasfluss durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 in Richtung Westeuropa unterbrach, dachten sich Analysten von Deutsche Bank Research drei Szenarien aus, wie es nach Ende der Wartungsarbeiten weitergehen könnte. „Auf des Messers Schneide“ nannten sie ein Szenario, in dem Gazprom den Gasfluss auf ein Fünftel der Kapazitäten von Nord Stream 1 reduzieren würde. Schon an diesem Mittwoch dürfte dieses Szenario Wirklichkeit werden. Täglich mehren sich außerdem die Hinweise, dass Moskau in den nächsten Monaten auch vor einem Komplett-Lieferstopp nach Europa nicht Halt machen wird, sofern sich der Kreml davon Vorteile im Angriffskrieg gegen die Ukraine erhoffen darf.
Die Einigung der Energieminister der Europäischen Union auf ein gemeinsames Ziel für Einsparungen beim Gasverbrauch dürfte die Hoffnungen des Kremls in dieser Hinsicht zumindest nicht gänzlich zerschlagen haben. Denn im Vergleich zum Vorschlag der EU-Kommission aus der vergangenen Woche setzt der jetzt gefundene Kompromiss auf ein freiwilliges Einsparziel für die nächsten acht Monate. Das kann im Falle eines drohenden Versorgungsnotstandes zwar zur Verpflichtung gemacht werden. Doch dieser Notstand kann nicht mehr allein von der Kommission, sondern muss im Rat mit qualifizierter Mehrheit festgestellt werden. Schließlich gibt es wie immer in der EU eine lange Liste von Ausnahmeregelungen.
Die Einigung der EU-Länder im Rekordtempo ist dennoch ein starkes Signal Richtung Moskau. Jetzt müssen die Sparziele aber schnell konkretisiert werden. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der erst in der vergangenen Woche ein weiteres Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht hat, sieht Deutschland bereits auf Kurs zum Sparziel. Allerdings stockt unter anderem die Aktivierung der Kraftwerksreserve, die den Einsatz von Gas in der Stromerzeugung zurückdrängen soll. Auch das Auktionsmodell, mit dem weitere Anreize für die Industrie geschaffen werden sollen, Gas einzusparen, lässt bis Herbst auf sich warten.
„Willkommen im Winter der Gas-Rationierungen“ ist das Szenario von Deutsche Bank Research überschrieben, das von einem russischen Lieferstopp ausgeht. Der Kreml hat in den ersten fünf Kriegsmonaten nicht nur den Widerstand der Ukraine, sondern auch die Geschlossenheit der Europäer unterschätzt. In den nächsten acht Monaten wird es ungleich schwerer, diese Geschlossenheit zu wahren.