Bernhard Emunds

„Gefahr, dass Risse noch breiter werden“

Bernhard Emunds leitet das Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Im Interview zieht der Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie Bilanz zum Corona-Krisenmanagement in Deutschland.

„Gefahr, dass Risse noch breiter werden“

Mark Schrörs.

Herr Professor Emunds, wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der deutschen Politik in der Coronakrise im vergangenen Jahr – aus gesellschaftlicher, aber auch aus wirtschaftlicher Perspektive?

Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung bei der „Globalsteuerung“ der Krise im internationalen Vergleich glänzend abgeschnitten. In der EU hat sie geholfen, eine solidarische Impfpolitik zu etablieren, die den Zugang auch der finanzschwachen Länder zu den benötigten Vakzinen sichert. Doch es gibt auch Schattenseiten. Wegen Kontaktverboten und da noch immer keine Schnelltest-Strategie greift, vereinsamen viele Pflegebedürftige. Auch sterben nicht selten Menschen ohne jede Begleitung. Hier wirkt die Politik konzeptionslos – bis heute. Für die Humanität dieser insgesamt so gut organisierten deutschen Gesellschaft ist das ein Armutszeugnis!

Oft wird über einen Gegensatz zwischen Gesundheit und Wirtschaft diskutiert, auch in der Debatte über einen Lockdown der Industrie. Gibt es den Gegensatz und wie lässt er sich auflösen?

Grundsätzlich gilt: Zuerst kommt das Wohlergehen aller Menschen, dann der Profit! Trotzdem gehen über weite Strecken der Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung und die Begrenzung des Konjunktureinbruchs Hand in Hand. Ich bin erleichtert, dass sich diese Einsicht in der aktuellen Welle weithin durchgesetzt hat. Angesichts der Mutationen will derzeit kaum jemand zurück zu einer Politik halbherziger Kontaktbeschränkungen. Das wäre nicht nur aus medizinischen Gründen unverantwortlich, sondern würde auch die „Hängepartie“ des Wartens auf bessere Zeiten enorm verlängern – wirtschaftlich mit katastrophalen Folgen. Und für die Schlussphase der Krise gilt: Nur der Staat kann die Krise so für beendet erklären, dass die Menschen wieder Vertrauen fassen; wirtschaftlich können sie dann auch wieder Pläne schmieden und mit Blick auf erwartete künftige Bedarfe Güter nachfragen. Diese Chance darf die Politik nicht dadurch verspielen, dass sie – vermeintlich aus wirtschaftlichen Gründen – Einschränkungen zu schnell wieder aufhebt.

Die Bundesregierung hat beispiellose Hilfen für die Wirtschaft aufgelegt. Muss die Politik mehr tun, um auch die gesellschaftlichen Verlierer der Pandemie wie Frauen, Geringverdiener und Jugendliche stärker zu unterstützen?

Schon vor der Krise mussten viele Eltern mit geringem oder mittlerem Einkommen, vor allem viele Frauen, Tag für Tag mit einer Vielzahl von Anforderungen aus Erwerbs- und Sorgearbeit jonglieren. Unter Coronabedingungen sollen sie nun auch noch Homeoffice, Homeschooling und ganztägige Kinderbetreuung unter einen Hut bringen. Und das vielleicht noch in einer kleinen Mietwohnung! Ungerechtigkeiten wie diese können durch die Coronapolitik alleine nicht überwunden werden. Da braucht es einen langen Atem und weitreichende gesellschaftspolitische Reformen, zum Beispiel die Stärkung einer gebührenfreien Kindererziehung und die staatliche Finanzierung haushaltsnaher Dienstleistungen, so dass auch Menschen mit kleinem Einkommen sie nutzen können.

Ein umstrittenes Thema sind die Schulen. Welche langfristigen Folgen für die Wirtschaft und für die Gesellschaft befürchten Sie durch anhaltende Schulschließungen?

Im Moment braucht es wohl den Schul-Lockdown. Aber wenn sich dies bis ins nächste Jahr hinziehen würde, nähmen viele Kinder Schaden. Nur im Präsenzunterricht ist ganzheitliches Lernen möglich. Dramatisch ist die sozial polarisierende Wirkung des Homeschooling. Der Abstand zwischen den Kindern von Mittel- und Oberschichtseltern mit hohen schulischen oder gar akademischen Abschlüssen zu Kindern aus weniger bildungsaffinen Familien wächst schneller als in Zeiten mit regulärem Präsenzunterricht. Insgesamt gilt: In Krisen ist die Gefahr groß, dass Risse, die es zuvor in der Gesellschaft schon gab, noch breiter werden. Da die Coronapolitik weitgehend verteilungsblind ist, müssen derzeit schmale Schultern besonders schwere Lasten tragen. Nicht wenige Wohlhabende dagegen bringen ihre Schäfchen ins Trockene. Wie viel Geld aus Soforthilfen für Kleinunternehmer, wie viel Kurzarbeitergeld fließt derzeit wohl durch Mietzahlungen an reiche Immobilienbesitzer weiter?

Wer sollte aus ethischer Sicht das Gros der Krisenkosten tragen?

Im Unterschied zu Finanzkrisen gibt es bei einer pandemisch verursachten Wirtschaftskrise keine Gruppe, die den Schaden verursacht hat. Folglich ist hier das Prinzip der Leistungsfähigkeit entscheidend. Nach dem Vorbild des Lastenausgleichs der Nachkriegszeit müsste man zum Beispiel eine einmalige Vermögensabgabe einführen. Zudem sollte bei hohen Einkommen, die in den Krisenjahren deutlich über den Einnahmen der Vorjahre lagen, der Differenzbetrag zum langjährigen Durchschnitt kräftig besteuert werden. Zieht sich die Krise nicht mehr lange hin, dann dürfte sich das deutsche Problem mit den Staatsschulden allerdings in Grenzen halten. Vor allem auf europäischer Ebene gibt es erhebliche Zusatzlasten, die nach der Krise zu verteilen sind.

Der Widerstand in der Gesellschaft gegen die Corona-Einschränkungen nimmt zu. Kann sich die Coronakrise noch zu einer Demokratiekrise auswachsen?

Im Vergleich zu den USA sind die Coronaleugner hierzulande eine bedeutungslose Randgruppe. Be­kommen wir die Pandemie bis Ende des Jahres weitgehend in den Griff, ist eine politische Krise unwahrscheinlich. Sollte sich, unerwartet, die Seuche in Europa noch lange festsetzen, können alle Institutionen ins Rutschen kommen, auch die politischen.

Welche grundsätzlichen Lehren sollten Gesellschaft und Politik aus dieser Pandemie ziehen?

Die Krise als Chance wahrnehmen? Da bin ich skeptisch. Aber zu wünschen wäre es, dass wir im erzwungen Teilstillstand des Lockdowns erkennen: So zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, wie wir es in normalen Zeiten Tag für Tag tun, mit riesigem Verschleiß der Umwelt und mit einem Erfolgsdruck, der viele überfordert und ausschließt, das hat uns kein Gott befohlen und kein Sachzwang aufgedrängt. Politisch können wir es jederzeit ändern. Da wir gegenwärtig an den planetaren Grenzen leben oder diese bereits überschritten haben, ist ein solcher Kurswechsel nicht nur wünschenswert, sondern das Gebot der Stunde!

Die Fragen stellte

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