NOTIERT IN PARIS

Kafkaeskes Wirrwarr an Sonderregelungen

In Frankreich umfasse das Arbeitsrecht 3 000 Seiten, in Deutschland 600 und in der Schweiz sogar nur 60, spottete Pierre Gattaz kürzlich. Der Chef des französischen Arbeitgeberverbandes Medef wollte damit anschaulich vor Augen führen, welch starken...

Kafkaeskes Wirrwarr an Sonderregelungen

In Frankreich umfasse das Arbeitsrecht 3 000 Seiten, in Deutschland 600 und in der Schweiz sogar nur 60, spottete Pierre Gattaz kürzlich. Der Chef des französischen Arbeitgeberverbandes Medef wollte damit anschaulich vor Augen führen, welch starken Restriktionen Unternehmen in Frankreich ausgesetzt seien.Dass das französische Arbeitsrecht nicht umsonst als verkrustet und unüberschaubar gilt, zeigt die gerade entflammte Debatte über die Sonntagsarbeit. Ausgelöst wurde sie durch die Entscheidung des Handelsgerichts von Bobigny bei Paris, das für 14 Läden der Baumarktketten Castorama und Leroy Merlin das Verbot verhängte, wie bisher üblich am Sonntag zu öffnen. Die Richter reagierten damit auf den Antrag einer einstweiligen Verfügung, die das Konkurrenz-Unternehmen Bricorama gestellt hatte. Diesem nämlich war bereits im Sommer durch ein Gerichtsurteil untersagt worden, seine Filialen auch sonntags zu öffnen, nachdem die Gewerkschaft FO (Force Ouvrière) gegen die Sonntagsarbeit bei Bricorama geklagt hatte. Das Unternehmen hatte daraufhin ein Eilverfahren angestrengt, da es sich durch das Urteil gegenüber seinen Wettbewerbern Castorama und Leroy Merlin benachteiligt fühlte.Obwohl ihnen Geldbußen von 120 000 Euro pro Geschäft und Sonntag drohen, setzten sich die beiden Ketten an diesem Wochenende über das richterliche Verbot hinweg. Dabei konnten sie sich des Rückhalts ihrer Mitarbeiter und Kunden sicher sein. 95 % der Mitarbeiter von Leroy Merlin im Großraum Paris seien für die Sonntagsarbeit, sagt Jean-Marc Cicuto von der gemäßigten Gewerkschaft CFTC. Die Verbraucher würden am Wochenende herumwerkeln und basteln, nicht während der Woche, begründet ein Sprecher von Castorama die Entscheidung, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Genau wie Wettbewerber Leroy Merlin bemängelt er das Wirrwarr an unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Bestimmungen. Denn im Gegensatz zu Baumärkten dürfen Möbel- und Gartenbaugeschäfte sehr wohl am Sonntag öffnen.Tatsächlich sind die Bestimmungen zur Sonntagsarbeit in Frankreich kaum zu verstehen. Ein Gesetz von 1906 verpflichtet jedes Unternehmen, seinen Mitarbeitern am Sonntag einen Ruhetag zu gönnen. Doch unter Ex-Präsident Nicolas Sarkozy beschloss das Parlament 2009 eine Ausweitung der Sonntagsarbeit. Das entsprechende Gesetz sei kafkaesk, urteilt die Wirtschaftszeitung “Les Echos”. Denn es enthalte so viele Ausnahmen und Sonderregelungen, dass niemand mehr durchsteige und den Richtern eine zentrale Rolle zukomme. So dürfen eben einige Geschäfte in den Gewerbegebieten von Metropolen mit mehr als 1 Million Einwohnern sonntags öffnen, genau wie Läden in Zonen “von touristischem Interesse”. Welche Gebiete unter diese beiden Kategorien fallen, muss der jeweils zuständige Präfekt entscheiden. In Paris beispielsweise gilt das Marais als Zone von touristischem Interesse, nicht aber der Boulevard Haussmann, wo sich die bei Touristen beliebten Kaufhäuser Galeries Lafayette und Le Printemps befinden.Die sozialistische Regierung befindet sich nun in der Zwickmühle. Denn zum einen will sie sich nicht den Ärger der klassenkämpferischen Gewerkschaften FO und CGT zuziehen. Zum anderen aber muss sie die Bestimmungen den heutigen Bedürfnissen anpassen. Innerhalb der Regierung herrscht deshalb Uneinigkeit, wie mit dem Thema umgegangen werden soll. So ist Gesundheitsministerin Marisol Touraine für eine Ausweitung der Sonntagsarbeit. “Es gibt Mitarbeiter, die Lust haben, sonntags zu arbeiten, und Leute, die gerne sonntags einkaufen wollen”, erklärte sie. Dagegen verwies Arbeitsminister Michel Sapin auf das gültige Arbeitsrecht. Es komme nicht in Frage, am gesetzlich für Sonntage verankerten Prinzip eines Ruhetages zu rütteln, sagte er.Nachdem sich Castorama und Leroy Merlin am Sonntag über das richterliche Verbot hinwegsetzten, berief Premierminister Jean-Marc Ayrault am Montag eine Krisensitzung zum Thema Sonntagsarbeit ein. Eine grundsätzliche Entscheidung fällte der Regierungschef jedoch nicht. Stattdessen setzte er, wie so oft, seit er sein Amt im Mai 2012 übernommen hat, eine Expertenkommission ein. Sie soll nun bis Ende November Empfehlungen vorlegen.