Gastbeitrag

Aktien: Kommt jetzt die Kehrtwende nach Europa?

Nach Meinung von Ross Cartwright, Lead Strategist der Investment Solutions Group bei MFS Investment Management, gibt es erste Anzeichen für eine allmähliche wirtschaftliche Erholung Europas. Dies könnte auch europäischen Aktienwerten Auftrieb geben und die Lücke zum US-Markt reduzieren.

Aktien: Kommt jetzt die Kehrtwende nach Europa?

Ist die jahrelange Dominanz der USA am Aktienmarkt vorbei? Aktuell ist vermehrt zu hören, dass Investoren die Gewichtung ihrer Portfolios nach Europa verlagern – und das, obwohl die US-Wirtschaft auch in diesem Jahr deutlich stärker wachsen dürfte als die der EU. Woran liegt das?

Die jüngsten Prognosen für 2024 gehen von einem Wachstum von 2,7 Prozent in den USA aus, im Vergleich zu 1,0 Prozent in der EU. Der Bewertungsabstand an den Aktienmärkten fällt entsprechend deutlich aus: Ende April lag das Forward-KGV des S&P 500 auf ein Jahr um 53 Prozent höher als das des MSCI Europe, das ist beinahe ein Rekordwert. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre kosteten US-Aktien „nur“ das 21-fache der erwarteten Unternehmensgewinne.

Durchschnittswerte haben natürlich ihre Tücken und vermitteln nicht das komplette Bild. Aber auch, wenn man die Aktienbewertungen nach Sektoren aufschlüsselt, sind alle europäischen Unternehmen billiger als ihre Wettbewerber in den USA. Selbst wenn man den Einfluss der berühmt gewordenen „Magnificent 7“-Schwergewichte herausrechnet, sind US-Titel noch um etwa 30 Prozent teurer als europäische.

Aktien aus Europa sind also vergleichsweise günstig zu haben. Doch ist ein Schnäppchen ein ausreichender Grund, jetzt in den alten Kontinent zu investieren?

Die langfristig höhere Prämie zugunsten der USA belegt, dass dort ansässige Unternehmen in der Tat über strukturelle Vorteile verfügen. Die US-Wirtschaft entwickelt sich typischerweise besser, und auch die Wachstumsaussichten sind in der Regel höher als in Europa. Ein Aufschlag ist also grundsätzlich gerechtfertigt, streiten lässt sich jedoch über die Höhe. Die aktuelle Differenz von 53 Prozent erscheint uns ziemlich extrem. Es ist durchaus fraglich, ob dieser Abstand zwischen den beiden Aktienmärkten noch viel weiter wachsen kann.

Europa ist global

Aufgrund der Zusammensetzung der Benchmark ist Europa eher value-orientiert, und Investments in Europa haben einen starken Bezug zur globalen Wirtschaftsentwicklung. Bei einem europäischen Aktienportfolio geht es also nicht um speziell europäische Chancen und Risiken. Ganz im Gegenteil: Die Handtaschen des französischen Luxuskonzerns LVMH zum Beispiel sind ein globales Vergnügen. Die Medikamente gegen Fettleibigkeit des dänischen Pharma-Unternehmens Novo Nordisk lösen ein globales Problem. Der niederländische Chip-Hersteller ASML ist entscheidend für das globale Wachstum der Halbleiterindustrie. Diageo aus Großbritannien verfügt über global bekannte Marken wie Guinness, Johnnie Walker, Casamigos, Tanqueray, Bulleit und Seedlip, um nur einige zu nennen.

Dazu kommt aktuell: Da sich die Erdgaspreise auf einem erträglichen Niveau eingependelt haben und die Reallöhne in ganz Europa eine positive Entwicklung genommen haben, gibt es erste Anzeichen für eine allmähliche wirtschaftliche Erholung – auch in Deutschland. Wenn der Abstand des realwirtschaftlichen Wachstums zwischen beiden Kontinenten kleiner wird, könnte dies auch europäischen Aktienwerten Auftrieb geben und die Lücke zum US-Markt reduzieren. Trotz jüngster Rekordhochs des DAX ist ganz sicher nicht davon die Rede, dass die Bewertungen europäischer Aktien überzogen sind oder sich in einer Blase befinden.

Langer Atem

Anleger sollten sich eine Frage stellen: Lohnt es sich, für jeden US-Dollar Unternehmensgewinn einen Aufschlag von 50 Prozent zu zahlen? Börsen und Aktienkurse steigen und fallen aufgrund von Geschichten, in denen meistens viel Wahres steckt, aber als Anleger sollte man sich auf die Fundamentaldaten konzentrieren. Und die zeigen in den USA inzwischen abwärts. Aus unserer Sicht wird es in den kommenden Jahren deshalb wahrscheinlicher sein, dass sich die Prämie für US-Titel seitwärts bewegt oder verringert, als dass sie sich weiter ausdehnt.

Beim Investieren geht es darum, Risiken einzugehen, für die man belohnt wird, und eine Outperformance lässt sich nicht erzielen, indem man als Anleger wiederholt, was der Markt heute schon aussagt. Gegen den Strom zu schwimmen kann allerdings unbequem sein und setzt eine langfristige Denkweise voraus.