Deutsche Konjunktur

Langwieriger Nachholprozess für die Industrie

Nie dagewesene Engpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten in Kombination mit Logistikproblemen bremsen die Industrie in zunehmendem Maße. Der Lieferkettenstress verschiebt den Aufschwung immer weiter nach hinten.

Langwieriger Nachholprozess für die Industrie

Von Alexandra Baude, Frankfurt

Die deutsche Wirtschaft ist auf Erholungskurs – doch die seit Monaten gestörten Lieferketten sorgen dafür, dass sich der Aufschwung immer weiter nach hinten verschiebt. Derzeit rechnen Ökonomen ihre Prognosen neu durch und das ist nötig: Probleme in der Logistik sorgen für Materialknappheiten, insbesondere bei Vorprodukten. Dementsprechend sitzt die Industrie auf Auftragsbüchern, die so dick gefüllt sind wie selten – doch kann diese nicht abarbeiten. Selten klafften Auftragseingang und Produktion so weit auseinander wie momentan.

Das Münchener Ifo-Institut, das regelmäßig Industrieunternehmen zu ihrer Betroffenheit von Materialknappheiten befragt, berichtet seit Mitte des Jahres monatlich von neuen Höchstständen – im September waren es 77,4 % (siehe Tabelle). Zum Vergleich: Das Maximum der seit 1991 erhobenen Zeitreihe lag zuvor bei 20,2 %. Die Produktion der Autoindustrie brach laut gewerkschaftsnahem IMK in den ersten sieben Monaten dieses Jahres um preisbereinigt fast 23 % ein, weil Halbleiter fehlten. Dass die Ausfuhr von Autos und Kraftfahrzeugteilen im selben Zeitraum lediglich um preisbereinigt knapp 12 % zurückging, weist darauf hin, dass ein wesentlicher Teil dieser Exporte aus Lagerbeständen stammte. Ein niedrigerer Lagerbestand als aktuell wurde laut Ifo-Institut noch nie gemessen – am deutlichsten spüren dies Elektro- und Autoindustrie sowie der Maschinenbau und die chemische Industrie.

Und Besserung ist immer noch nicht in Sicht. Aktuell rechnen die meisten Experten und Unternehmen damit, dass sich die Misere noch bis weit in das kommende Jahr hineinzieht – wenn nicht sogar darüber hinaus. Das von Hoffnung getragene Szenario lautet: Ab dann können die Unternehmen die Aufträge zügig abarbeiten, die Produktion holt auf, da die leer gefegten Lagerhallen aufgefüllt werden müssen, die Exporte kommen wieder in Schwung, die Industrie liefert erneut positive Wachstumsimpulse – und verlängert damit den Aufschwung. Denn so allmählich geht den kundennahen Dienstleistern die Puste aus, die Aufholeffekte nach den Lockerungen von den coronabedingten Restriktionen laufen aus und die Sorge vor den Folgen einer vierten Coronaviruswelle nehmen wieder zu. Auch wenn die Politik derzeit einen weiteren flächendeckenden Lockdown ausschließt: Zu oft hat das Virus bereits gezeigt, wie unberechenbar es ist.

Zu beachten ist, dass die Produktion im produzierenden Gewerbe seit 2018 im Trend sinkt. Ursächlich ist insbesondere die Schwäche der Industrie im engeren Sinn, allen voran die Hersteller von Investitionsgütern – namentlich, so heißt es bei der DekaBank, in der Automobilbranche. Dies spiegele die Nachfrageverschiebung durch den Dieselskandal sowie die E-Transformation der Automobilindustrie wider. Seit Jahresbeginn aber beruht eben ein großer Teil der Industrieschwäche auf den Lieferengpässen bei Rohstoffen und Bauteilen wie Halbleitern. Entweder sind sie in zu geringem Umfang vorhanden oder es mangelt an Transportkapazitäten, um sie zu den Produktionsstätten zu bringen. Zudem verteuerten sich dadurch diese Materialien und die Frachtkosten. Der Preisdruck ist enorm, wie unter anderem die monatlichen Einkaufsmanagerumfragen von IHS Markit zeigen. Das Ergebnis sind gravierende Behinderungen der Produktion und teilweise sogar Werksschließungen, insbesondere in der hierzulande so wichtigen Automobilbranche. Jüngstes Beispiel ist das Opel-Werk in Eisenach.

Vom Vorkrisenniveau ist die Gesamtfertigung des verarbeitenden Gewerbes noch weit entfernt: Stand Juli sind es dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge 5,5%, die es aufzuholen gilt. Seit Jahresbeginn sank die Produktion per saldo um knapp 2% – und dies, obwohl die Aufträge zulegten. Seit Anfang 2021 sind die Bestellungen um mehr als 11% gestiegen, der Auftragsbestand liegt auf Rekordniveau. Damit ist die Schere zwischen Auftragseingängen und Produktion hierzulande so weit geöffnet wie selten. Der Absturz und die rasche Erholung im Coronajahr 2020 wurde noch weitgehend im Gleichlauf vollzogen.

Dominoeffekte

Dass sich die Engpässe, die sich durch die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Schutzmaßnahmen aufgebaut hatten, dermaßen ausweiten würden, hatte sich kaum jemand vorstellen können, als im März die „Ever Given“, eines der größten Frachtschiffe der Welt, im Suezkanal havarierte. Mehr als 400 Frachtschiffe stauten sich und es wurde erwartet, dass sich der Frachtstau innerhalb von Tagen auflösen würde. Der fast einwöchige Stillstand trieb die bereits zuvor erhöhten Frachtkosten. Der globale Frachtratenindex belief sich zuletzt im Wochenschnitt auf 10839 Dollar pro Standardcontainer, das ist etwa das Vier- bis Fünffache der üblichen Frachtrate (siehe Chart und unten stehenden Text). Aus Ostasien nach Nordeuropa kostete ein Container zuletzt sogar 14626 Dollar. Tausende leere Container steckten tagelang fest. Der globale Warenverkehr wird zu etwa 90% auf dem Seeweg abgewickelt. Daraus erklären sich denn auch die umfassenden Auswirkungen der zeitweisen Terminalschließungen wegen erneuter Coronaausbrüche in China – Ende August etwa im zweitgrößten Containerhafen Chinas in Ningbo-Zhoushan.

So kommt es auch zu den Dominoeffekten: Die Probleme zu Beginn der Wertschöpfungskette setzen sich fort und zeigen sich zuletzt auch beim Konsumenten, entweder in gestiegenen Endpreisen oder weil schlicht nicht alle Bestellungen geliefert werden können. Nike, Adidas und Puma warnten bereits vor Auswirkungen auf das Weihnachtsgeschäft. Immer mehr Unternehmen wollen die gestiegenen Kosten auf die Kunden überwälzen. Das Münchener Ifo-Institut berichtet, dass im verarbeitenden Gewerbe insgesamt 8% der Unternehmen die Preiserhöhungen vollständig an die Kunden weitergeben können. 38% sagten, dass sie mindestens die Hälfte weitergeben können. Ein Drittel der Unternehmen sieht jedoch keinerlei Spielraum für Preiserhöhungen: Entweder weil der Wettbewerb so stark ist oder aus Sorge, Kunden zu verprellen.

Die Konjunktur wird also auf Sicht an mehreren Stellen gebremst: auf Seiten von Industrie, Konsumenten und auch dem Außenhandel. Denn es kann nur exportiert werden, was auch produziert wurde. Davon zeugen die jüngsten Außenhandelsdaten: Zwar haben die Ausfuhren um 0,5% zugelegt, doch rechnet man die Preisniveausteigerungen heraus, ergibt sich für die Exporte ein Rückgang um 0,8%. Real hat die Warenausfuhr – im Gegensatz zur nominalen Rechnung – den Vorkrisenwert noch nicht wieder erreicht. Destatis zufolge beträgt der Abstand 1,9%.

Deutsche Unternehmen mit Auslandsgeschäft haben mehrheitlich schon vor Wochen die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Lage in den internationalen Lieferketten in diesem Jahr bessern wird, wie eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) Mitte August ergab. Christian Forwick, Experte für Außenwirtschaftspolitik im Bundeswirtschaftsministerium, brachte die maximale Unsicherheit bei einer Konferenz der Industrieländerorganisation OECD auf den Punkt: Es werde eine Weile dauern, bis sich die Lieferketten wieder einspielen – „wie lange das dauert, weiß kein Mensch“.

Materialmangel bei Vorprodukten und Rohstoffen
in ProzentJuliAugustSeptemberMaximum vor 2020
Verarbeitendes Gewerbe63,869,277,420,2
Kfz und Kfz-Teile83,491,596,622,1
Maschinenbau70,381,789,135,9
Chemische Industrie59,157,666,527,4
Quelle: Ifo-InstitutBörsen-Zeitung