NOTIERT IN LONDON

Multiple Regression

Vickie Hairsine aus East Hull hat wohl kaum damit gerechnet, dass ihr Auftritt in einer Fernsehdoku von Channel 4 so viel Empörung auslösen würde. Es ging um Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken und ihnen weder Regeln vorgeben noch...

Multiple Regression

Vickie Hairsine aus East Hull hat wohl kaum damit gerechnet, dass ihr Auftritt in einer Fernsehdoku von Channel 4 so viel Empörung auslösen würde. Es ging um Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken und ihnen weder Regeln vorgeben noch Grenzen setzen. Früher bestanden vor allem religiöse Fundamentalisten aller Art darauf, ihre Sprösslinge selbst zu unterrichten. Mittlerweile ist “extreme unschooling” oder “off-grid parenting” ein wachsender Trend in Großbritannien. Die Idee: Aus dem Nachwuchs sollen keine Konformisten werden, die von 9 bis 5 irgendwo im Büro hocken oder als Nur-Hausfrauen dahinvegetieren wie die Eltern der Eltern.”Ich will nicht, dass sie in der Schule unglücklich sind und dabei lernen, wie man in einem Klassenzimmer sitzt, um später einen Bürojob machen zu können”, sagt Hairsine. Interessanterweise sorgte sie für die stärksten Publikumsreaktionen, weil sie ihrer siebenjährigen Tochter Jessica dabei half, sich die Haare lila zu färben. Prompt wurde sie in den asozialen Netzwerken als “faul” und “verantwortungslos” beschimpft. Dabei waren in der Doku Dinge zu sehen, die weitaus mehr Grund zur Beunruhigung gaben, etwa bei der Familie Rawnsley aus Yorkshire, wo die mobile Friseuse Gemma und der Koch Lewis ihr Differenzbedürfnis an ihren sieben Kindern ausleben.”Wir haben das Gefühl, dass wir als Gesellschaft viel zu sehr darauf festgelegt sind, einfach Nein zu unseren Kindern zu sagen, ohne darüber nachzudenken warum”, sagt Gemma, die sich als “Unterstützerin” der Kinder versteht, die Tag und Nacht auf Entdeckungsreise gehen. Motto: Learning by Doing. Wer sich mit dem Hammer auf den Finger haut, weiß danach, dass man das nicht tun sollte. Um 11 Uhr nachts noch ein Eis? Kein Problem. Die Familie macht dabei einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Nur als Sohn Finlay (12) plötzlich zur Schule gehen will, kann Gemma ihr Unverständnis kaum verbergen. Aber sie lässt ihm, von ein paar spitzen Bemerkungen einmal abgesehen, die Freiheit, es einfach auszuprobieren. Er bleibt am Ende nicht in der Schule, weil man da so viele aus seiner Sicht sinnlose Dinge lernen muss. Immerhin, Gemma ist bemüht, allen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen.Jenna Presley aus Wiltshire sagt in der Doku, sie sei zu der Auffassung gekommen, dass es an Kindesmisshandlung grenze, wenn sie ihren zweiten Sohn Archie (13) zur Schule schicken würde. Und so besuchte der Teenager in den vergangenen sechs Jahren nicht den Unterricht. “Lesen und Schreiben mag ich sowieso nicht”, sagt Archie. Außerdem: “Wenn ich etwas schreiben muss, kann ich es einfach in mein Smartphone diktieren.” Als er “Club” auf einen ausrangierten Wohnwagen sprühen will, den ihm seine Mutter hingestellt hat, vergisst er prompt das “l”. Als der Großvater eine Nachhilfelehrerin sponsert, erwacht Archies Interesse an den Buchstaben, und fast hätte er in einem zweiten Schritt auch das mit den Zahlen in Angriff genommen. Aber Mutter Jenna kündigt an, nun erst einmal ein paar Monate mit den Kindern durch Europa zu reisen – bloß keine Struktur im Tagesablauf aufkommen lassen.Während freiheitsliebende Eltern auf diese Weise die nächste Generation von Sozialhilfeempfängern heranziehen, zeigen sich auch beim britischen Geldadel Zeichen von Regression. Im Londoner Nobelviertel Chelsea sucht man nach Kindermädchen, die mit “geschlechtsneutral” erzogenen Kindern klarkommen und keinesfalls mit “er” oder “sie” auf die lieben Kleinen Bezug nehmen. Und an der Kensington Wade wird – für schlappe 17 000 Pfund im Jahr – zweisprachig in Englisch und Mandarin unterrichtet. Wer an China glaubt, kann hier schon Dreijährige abgeben, damit ihnen bereits ab dem Kindergarten die vermeintliche Sprache der Zukunft, ein wenig Konfuzius und Tai Chi beigebracht werden. In der “Times” hieß es süffisant, die Uniform sei eine Mischung aus Hogwarts-Socken und der Berufskleidung eines “sehr kleinen Portiers des Four Seasons in Schanghai”. Zum Glück gibt es den globalen Konkurrenzkampf, den höhere Angestellte so sehr fürchten, in dieser Form nicht. Aber die Zukunft gehört immer denen, die nicht von Abstiegsängsten geplagt werden. So viel ist klar.