NOTIERT IN MOSKAU

Mut zur Reform oder Implosion

Den Unterschied zwischen den politischen Systemen in Russland und dem Westen bringt ein in Moskau kreiertes Bonmot auf den Punkt: Im Westen ist das Regelwerk eines Urnengangs klar und transparent, dafür sein Ausgang offen. In Russland hingegen ist...

Mut zur Reform oder Implosion

Den Unterschied zwischen den politischen Systemen in Russland und dem Westen bringt ein in Moskau kreiertes Bonmot auf den Punkt: Im Westen ist das Regelwerk eines Urnengangs klar und transparent, dafür sein Ausgang offen. In Russland hingegen ist das Regelwerk nicht klar, dafür das Ergebnis.Aber selbst wenn die Präsidentenwahlen im März 2018, die zunehmend ihre Schatten vorauswerfen, rundum fair ablaufen würden, würde sie Kremlchef Wladimir Putin wohl gewinnen. Sofern er zu ihnen antritt, was er wie bei früheren Wahlgängen ja bis zuletzt offenlässt, um dann das Erwartete zu bestätigen.Wie dem auch sei: Die bevorstehenden Wahlen dürften dennoch zu einem Meilenstein werden, der sich von früheren wesentlich unterscheidet. Sie scheinen eine einschneidende Phase einzuläuten. De facto nämlich werden sie den Weg in eine Übergangsphase hin zu einem Post-Putin-Russland öffnen, so der Politologe Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Institut. Schon allein bei der Frage, ob es ein Leben nach Putin gibt, bekreuzigen sich viele Russen heute noch. Das ist nicht zufällig, schließlich ist politische Macht im Riesenreich sakrosankt, weshalb Dumavorsitzender Wjatscheslaw Wolodin festhielt: “Putin ist Russland, und Russland ist Putin, und wer sich gegen Putin stellt, stellt sich gegen Russland.”Dennoch: Eine Zeit nach Putin wird früher oder später kommen. Kolesnikow konstatiert zu Recht, dass die relevanteste Frage nicht mehr sei, ob Putin 2024 im Alter von dann 71 Jahren nochmals zur Wahl antrete. Relevanter sei die Frage, ob das System Putin weiter funktionieren werde. In der Tat ist das alles andere als klar. Die staatlichen Institutionen etwa konnten ihr Image, willkürlich gelenkt zu sein, nicht ablegen und zeigen ihren kritischen Zustand täglich. Der Gesellschaftsvertrag, demzufolge der Staat als Gegenleistung für politische Nichteinmischung materiellen Wohlstand sichert, gilt schon jetzt nicht mehr.Stagnation und Rezession in den vergangenen vier Jahren haben frühere Erfolge in der Wirtschaftsentwicklung zunichtegemacht. So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 2008 und 2016 um jährlich 0,9 % gewachsen, während die Weltwirtschaft um jährlich 3,3 % zulegte. In den entwickelten westlichen Industriestaaten waren es 1,1 %. Der politische Bedeutungsgewinn in der Welt findet also keine Entsprechung in der Wirtschaft. Im Gegenteil: Beim BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität begann der Abstand zu den westlichen Industriestaaten sogar wieder zu wachsen.Putin und sein Umfeld wissen um diese Um- und Zustände nur zu gut Bescheid. Sie wissen, dass nicht die bevorstehenden Wahlen der springende Punkt sind. Der springende Punkt seien die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konsequenzen nach der Wahl in der zweiten Hälfte 2018, wie der Moskauer Politologe Alexej Makarkin soeben feststellte: Die sozioökonomischen Reformen seien unvermeidlich und müssten harsch ausfallen; und sie würden sich wohl mit den Erwartungen der Menschen nicht decken.Putin sorgt für das Überfällige schon vor, baute da wie dort bereits den Kader mit klarer Tendenz zur Bevorzugung von Technokraten um. Und er ließ sich von zwei konkurrierenden Gruppierungen aus dem Establishment jeweils ein Wirtschaftsprogramm für seine Wiederwahl ausarbeiten: Das eine stammt aus dem sogenannten wirtschaftsliberalen Lager, angeführt von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin. Das andere aus der interventionistischen Fraktion rund um den Unternehmerombudsmann Boris Titow.Aus der Tatsache, dass Kudrin auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg vergangene Woche ausreichend Zeit und Raum bekam, seinen Befund für die Lage und seine Reformvorschläge darzulegen (höheres Rentenantrittsalter, weniger Verteidigungsausgaben, Verwaltungs- und Justizreform …) heißt noch nicht, dass eine Vorentscheidung für diese Radikalkur gefallen ist. Putins Sympathien sind seit zwei Jahrzehnten bei seinem stillen Berater, Kudrin. Aber in vielem fehlt ihm der Mut, dem Rat auch zu folgen. Wenn er ihn 2018 nicht aufbringt, wird die Wirtschaft weiter auf niedrigem Niveau dahindümpeln, bis das System von selber implodiert.