NOTIERT IN MOSKAU

Neuer Fokus auf die Altlasten

In Russland, so heißt es, ist nicht nur die Zukunft ungewiss - auch die Vergangenheit ist nicht prognostizierbar. In der Tat legt sich jeder Herrscher von Neuem zurecht, wie man Historisches zu deuten hat, damit es friktionsfrei zur erwünschten...

Neuer Fokus auf die Altlasten

In Russland, so heißt es, ist nicht nur die Zukunft ungewiss – auch die Vergangenheit ist nicht prognostizierbar. In der Tat legt sich jeder Herrscher von Neuem zurecht, wie man Historisches zu deuten hat, damit es friktionsfrei zur erwünschten Sicht der Gegenwart passt. Die Revolution von 1917 erweist sich diesbezüglich wegen ihrer Vielschichtigkeit als etwas sperriges Ereignis. Revolution ist heute allein schon als Begriff verpönt, wird er doch mit unkontrollierbaren Umwälzungen Richtung Demokratie in benachbarten Staaten assoziiert. Außerdem ist nicht so leicht definierbar, welcher Aspekt des Revolutionsjahres und welcher Moment der postrevolutionären Entwicklung tatsächlich zur heutigen Konstruktion und Ideologie des Staates passt. Die Tatsache, dass Kremlchef Wladimir Putin sich das Image eines postmonarchistischen Zaren zurechtgezimmert hat, der zudem die Unterstützung der orthodoxen Kirche genießt, macht die Feier einer Revolution, die das Zarentum beseitigte und die Kirche demontierte, auch nicht einfacher.Da fällt es vergleichsweise leicht, andere historische Erbschaften nicht nur zu thematisieren, sondern auch die Beseitigung derjenigen anzudenken, die sich längst als Last erwiesen haben. In zwei Punkten geschieht dies momentan so stark wie schon lange nicht. So hat Russlands Finanzminister, Anton Siluanow, Ende Februar zu verstehen gegeben, dass er auf das Geld schielt, das die Russen traditionellerweise aus Misstrauen gegenüber den Geldinstituten zu Hause horten. Um es zu bergen, will Siluanow ab April spezielle Staatsanleihen für das Volk auflegen.In der Tat liegen Unsummen unter russischen Kopfkissen, allerdings kann Umfragen zufolge nur etwa ein Drittel der ökonomisch aktiven Russen überhaupt Geld zur Seite legen. Die Ersparnisse physischer Personen auf Rubel- oder Devisenkonten betrugen laut Zentralbank im Januar 24,3 Bill. Rubel (392 Mrd. Euro). Das Statistikamt Rosstat, das freilich nur die Ersparnisse in Rubel zählt, beziffert den Anteil des in bar gehaltenen Geldes mit 17 % – exakte Daten gibt es nicht. Mit alternativen Anlageformen haben Russen keine guten Erfahrungen. Zu oft sind sie Betrügern auf den Leim gegangen. Zu oft sind auch Banken zusammengebrochen, ohne dass die Finanzmarktaufsicht die Anleger geschützt hätte. Aber es sei an der Zeit, dass in Russland eine Investitionskultur aufgebaut werde, erklärt Siluanow sein Vorhaben. *Auch auf einer ganz anderen Ebene will der Staat Überkommenes, sprich Altlasten, nun abbauen: im Bereich des Städtebaus. So hat Kremlchef Putin kürzlich mitgeteilt, dass die typischen fünfstöckigen Plattenbauten aus der Chruschtschow-Ära, die nach wie vor große Teile Moskaus prägen, nicht generalsaniert, sondern abgerissen werden sollen.In der Tat haben sich diese Häuser und Wohnungen längst überlebt. Sie wurden in den 1950er und 1960er Jahren gebaut und sollten nur ein paar Jahrzehnte genutzt werden, bis der Kommunismus siegt. Eng sind sie, niedrig. Isoliert wurden sie nie. Sie abzutragen und den Bewohnern neue bereitzustellen ist eine Mammutaufgabe. Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin spricht von 8 000 Häusern mit 25 Mill. Quadratmetern Wohnraum: 300 Mrd. Rubel (4,8 Mrd. Euro) will die Stadt dafür bereitstellen. Gegenwärtig würden noch 1,6 Millionen Menschen in diesen funktionalen Betonboxen leben – oder eher hausen.Dass Putin das epochale Wohnungserneuerungsthema nun hochkommen lässt, wird in Moskau auch mit den bevorstehenden Wahlen erklärt. Im März 2018 wird der Präsident neu gewählt, im Herbst darauf der Bürgermeister der Hauptstadt, in der immerhin ein Zehntel der russischen Bevölkerung lebt. Die politische Logik dahinter: Sobjanins bisherige Aktivitäten – die Erneuerung der Gehsteige und der Parks – haben vorwiegend auf die Mittelschicht abgezielt, allerdings den erwünschten Effekt bei Wahlen nicht gebracht. Mit den Aktivitäten im sozialen Wohnbau sollten nun ärmere Schichten umgarnt werden. Der Politologe Dmitri Orlow rechnet damit, dass die Aktion Sobjanin 15 % und Putin etwa 7 % mehr Zustimmung bringen wird.