NOTIERT IN SCHANGHAI

Neujahr im November

Endlich ist sie die verdammte Katze wieder los. Zwei Wochen lang hat die junge chinesische Studentin versucht, den Balg zu füttern, zu pflegen und ihm Katzenkostümchen anzuziehen. Das kostete täglich vier bis fünf Stunden Zeit, obwohl sie wirklich...

Neujahr im November

Endlich ist sie die verdammte Katze wieder los. Zwei Wochen lang hat die junge chinesische Studentin versucht, den Balg zu füttern, zu pflegen und ihm Katzenkostümchen anzuziehen. Das kostete täglich vier bis fünf Stunden Zeit, obwohl sie wirklich Besseres zu tun hatte. Die gestohlene Zeit ist übrigens am Smartphone verbracht worden. Es handelt sich nämlich um ein virtuelles Kätzchen, das es im Rahmen eines Smartphone-Onlinespiels großzuziehen und bei Laune zu halten galt. Wer den Job zur Zufriedenheit erledigt hat, wurde von Taobao, einer in etwa mit Ebay vergleichbaren chinesischen E-Commerce-Plattform, mit Gutscheinen belohnt und hat dann Zugang zu besonderen Rabattaktionen für Chinas jährliches Onlineshopping-Festival am 11. November erhalten.Das virtuelle pflegebedürftige Kätzchen ist nur eines von Dutzenden Beispielen, wie Chinas E-Commerce-Riesen, allen voran der Taobao-Betreiber Alibaba ihre Kundschaft ins Shoppingfestival gelotst und auf ihren Plattformen als Geiseln für Tage und Wochen festgehalten haben. In diesem Jahr zählt man mehr als 100 Millionen Chinesen, die sich bei der Jagd auf Rabattcoupons auf den lästigen Katzenpflegetrip eingelassen haben und mit fortwährenden Miau-Tönen auf ihrem Handy berieselt wurden. Alles nur, um den virtuellen Fellsack auf ein immer höheres Zufriedenheitsniveau zu bringen, was neue Gutscheine in das Online-Einkaufswägelchen flattern ließ. *Der “Kidnapping-Aufwand” lohnt sich für die Betreiber. In diesem ist es Alibaba zum elften Mal in Folge gelungen, bei Chinas wichtigstem Shoppingfestival den Vorjahresrekord zu brechen. Tatsächlich wurde ein Bruttowarenwert von 74 Mrd. Dollar elektronisch verscheppert, fast doppelt so viel wie im Covid-freien Vorjahr. Chinas E-Commerce-Bühnen verhalten sich immer mehr wie Social-Media-Plattformen und setzen alles daran, die Nutzer mit Gimmicks in der App gefangen zu halten. Dabei riskieren sie freilich gewisse Ermüdungserscheinungen bei den vom 11. November gestressten Followern. Die brave Studentin jedenfalls schwört sich, nie wieder den Onlineshopping-Spielen auf den Leim zu gehen. Man darf getrost davon ausgehen, dass sie den guten Vorsatz bis zum nächsten Jahr wieder vergessen hat, wenn neue Attraktionen winken. *Mit dem 11. November ist es mittlerweile ein bisschen wie mit dem chinesischen Neujahrsfest, man könnte auch sagen wie mit Weihnachten in Europa: Die Erwachsenen haben einen höllischen Erledigungsstress, um alles auf die Reihe zu kriegen, und für die Kinder hagelt es Überraschungen und Geschenke. Es gibt also eine Bescherung zu feiern. So stellt es sich jedenfalls in einem Schulaufsatz einer achtjährigen Chinesin dar, der seinen Weg ins Netz gefunden hat und noch vor dem US-Wahltheater zum Trending-Thema Nummer 1 auf sozialen Medien geklettert war.Gefragt war in dem Aufsatz, welches traditionelle chinesische Fest am meisten in Erinnerung geblieben ist, und die Kleine hat fleißig drauflosgeschrieben, warum der 11. November das überhaupt wunderschönste Traditionsfest ist, weil die Mama ganz viele schöne Kleider, leckere Snackartikel, weiches Klopapier und tolle Kosmetika gekauft hat und für sie auch noch Spielwaren-Schnäppchenkäufe abgefallen sind.Die Verwunderung über den Aufsatz gilt natürlich nicht der Begeisterung über die familiäre Konsumorgie, sondern über die Einordnung des Shoppingfestivals als chinesisches Traditionsfest. Die Alibaba-Gala hat zwar nicht Tausende aber immer hin schon mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, für Kinder ist sie ergo schon immer dagewesen.Zu den Traditionen gehört mittlerweile auch, dass Chinas Logistik- und Expresskurier-Branche in der zweiten Novemberhälfte einen Höllenstress hat. Denn nun geht es darum, die Kleinigkeit von rund drei Milliarden Päckchen und Paketen in Gewichtsklassen vom Kühlschrank bis zum Kaschmirpullover im ganzen Land zu verteilen – und zwar ein bisschen plötzlich. Da haben sie nun die Bescherung.