Nur keine Angst vor der Wirklichkeit
Der Rechtsterrorist, der mit einem Lieferwagen in eine Menge von Gläubigen vor der Finsbury-Park-Moschee raste und dabei Makram Ali tötete und viele Menschen verletzte, hat das BBC-Fernsehdrama “Three Girls” gesehen. Das wäre an sich nicht weiter erwähnenswert, wenn es nicht – auf Grundlage der Aussage seiner ehemaligen Lebensgefährtin – zum Ausgangspunkt der Radikalisierung des Attentäters erklärt worden wäre. Danach habe er alle Muslime für Vergewaltiger und Kriminelle gehalten. Der Mann, der seit einem Jahrzehnt nicht gearbeitet hatte, war Alkohol und Drogen zugetan und psychisch labil. Im Internet las er reichlich Material zu Verschwörungstheorien und Hasspropaganda gegen Muslime. Der Polizei zufolge erhielt er eine direkte Twitter-Botschaft der stellvertretenden Chefin von Britain First.”Three Girls” war dagegen ein vorbildlicher Versuch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den massenhaften Kindesmissbrauch durch kriminelle Banden von Männern vornehmlich muslimischen Glaubens aufzuarbeiten, den Polizei, Medien und die zuständigen Kommunalverwaltungen viele Jahre ignoriert hatten, um nicht als “rassistisch” abgestempelt zu werden. Der Mehrteiler beschäftigt sich behutsam und ohne jede Effekthascherei mit dem Schicksal von drei Opfern aus Rochdale. Ähnliche Fälle gab es nicht nur in anderen nordenglischen Armenhäusern wie Rotherham, sondern auch in prosperierenden Gegenden wie Oxfordshire. Die Opfer waren weiße Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, die als Freiwild galten. Viele wurden mit Alkohol und Drogen gefügig gemacht. Die Autorin des Fernsehdramas, Nicole Taylor, hat vier Jahre recherchiert und sich große Mühe gegeben, Rechtsextremisten keine Gelegenheit zu geben, “Three Girls” für ihre Propaganda auszuschlachten. Für das, was geschehen sei, habe es keinerlei religiöse Grundlage gegeben, sagt Taylor. Aber man müsse diskutieren, wie es dazu kommen konnte. Man dürfe nicht schweigen, nur weil Gruppen wie die rechtsextreme English Defence League versuchen könnten, das Thema für sich zu nutzen. Nun werden sich leider viele in ihrem Glauben bestätigt fühlen, dass man solche Dinge unter den Tisch kehren muss, um Rassisten keine Argumente zu liefern.Ohnehin ganz undenkbar wäre, dass die BBC so etwas wie die französische Krimiserie “Engrenages” (etwa: “Im Räderwerk der Justiz”) selbst produziert, deren sechste Staffel in den vergangenen Wochen im vierten Programm ausgestrahlt wurde. Würde sich jemand den Kulturkanal ansehen, wäre der öffentliche Aufschrei wohl unüberhörbar. Denn Regisseur Frédéric Mermoud geht es nicht um Proporz oder politische Korrektheit, sondern um Glaubwürdigkeit. Er zeigt die Dinge und die Menschen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Die Darsteller sprechen so, wie auf der Straße gesprochen wird. Paris und seine Vorstädte sind aus Mermouds Perspektive alles andere als romantisch. Nahezu alle Polizisten sind weiß. Die von ihnen Festgenommenen sind entweder schwarz oder gehören anderen Minderheiten an. Die Ordnungshüter werden von der Bevölkerung der Banlieue mehrheitlich als Feinde wahrgenommen. Mermoud glorifiziert weder die eine noch die andere Seite. Einen Ausweg bietet er nicht. Die Bürgermeisterin der erfundenen Kommune Cléry-sous-Bois geht eine Allianz mit Drogenhändlern ein, die sich mit einem Boxclub und einem Verein zur Hausaufgabenhilfe einen sozialen Anstrich geben. Als einer von ihnen bei einem Einbruch von einem neu eingestellten Polizisten auf der Flucht erschossen wird, ein tragischer Unfall, stacheln sie die Jugendlichen über antisoziale Netzwerke zum Aufstand gegen die “rassistische Polizeigewalt” an. Erst ein Gedenkmarsch unter Führung der Bürgermeisterin, bei dem der Dealer zum Menschenfreund verklärt wird, bewirkt ein Abklingen der Unruhen. Als die Serie in Frankreich ausgestrahlt wurde, empörte sich niemand darüber. Sie ist einfach zu nahe an der Realität, die von den Menschen tagtäglich wahrgenommen wird. Dem Bürgermeister von Bobigny wurde 2017 Stimmenkauf mit Steuergeldern vorgeworfen. Die Kommune liegt im Département Seine-Saint-Denis – wie Cléry-sous-Bois.Man kann nur hoffen, dass die siebte Staffel in Großbritannien noch ausgestrahlt werden darf.