Ökonomen geißeln „Verschleppung von Reformen“
Ökonomen geißeln „Verschleppung von Reformen“
„Verschleppung von Reformen“
Ökonomen kritisieren Bundesregierung – Dramatisch hohe Lohnzusatzkosten prognostiziert
Den Zeitpunkt, dass Sozialreformen noch ohne große Schmerzen das System hätten stabilisieren können, wurde versäumt. Jetzt käme es auf eine faire Verteilung der Einschnitte an. Doch auch heute noch marschiert die Bundesregierung weiter in die falsche Richtung, kritisiert etwa der Wirtschaftsweise Werding.
lz Frankfurt
Die Sozialbeiträge steigen seit Jahren ungebremst. Und das hat Folgen aus gleich drei Perspektiven: Die Arbeitskosten legen zu, was die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland aushöhlt und Produktion ins Ausland treibt. Die Belastung für die Beitragszahler steigt, weshalb ihnen immer weniger Netto übrigbleibt. Dies untergräbt zum einen den Arbeitswillen und nimmt ihnen zum anderen die Möglichkeit, ergänzend privat vorzusorgen. Und schließlich stößt auch der Bund an Finanzierungsgrenzen, wenn er den Beitragsanstieg weiter durch Steuerzuschüsse dämpfen will: Steuererhöhungen werden dann unausweichlich, was vor allem die jungen Erwerbstätigen trifft, die schon eine besonders hohe Beitragslast zu schultern haben. Obendrein ist das auch mit Blick auf die Generationengerechtigkeit ein Nährboden für Politikverdrossenheit.
Junge Generation als Zahlmeister?
Auf dem Forum Wissenschaft des Verbands der Privaten Krankenversicherung war der Verdruss der Ökonomen über die Tatenlosigkeit der Politik geradezu spürbar bei ihrer Schilderung der Reformnotwendigkeiten in den Sozialsystemen. Der Wirtschaftsweise Martin Werding sprach von „Verschleppung“ und verwies auf die steigende Beitragsbelastung der jungen Generation: Während die 1960er Jahrgänge über das Erwerbsleben hinweg auf einen durchschnittlichen Beitragssatz von knapp 40% kommen, liege dieser für alle nach 2000 Geborenen schon bei über 50%, rechnete er vor.
Steuerzuschuss nicht durchzuhalten
Weil vor allem CDU/CSU und SPD über die Jahre in der Regierung nichts dagegen unternommen hätten, seien inzwischen Lasten aufgelaufen, die nicht mehr vermieden, sondern nur noch fair verteilt werden könnten. Etwa durch späteren Renteneintritt, Rentenanpassung nur an die Teuerung sowie mehr private Altersvorsorge für die Jüngeren. Doch aktuell gehe es erst einmal weiter in die falsche Richtung: Das vorliegende Rentenpaket erzeuge zusätzliche Belastung. Und die darin versprochene Steuerfinanzierung durch Beitragsdämpfung sei finanziell nicht durchzuhalten.

Ein Viertel des Bundeshaushalts
Denn das würde, so Thiess Büttner, Vorsitzender des unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats, „den Haushalt in wenigen Jahren sprengen“. Um die Beitragssätze auf dem aktuellen Niveau zu stabilisieren, „müssten 2035 zusätzlich rund 150 Mrd. Euro aus Haushaltsmitteln – zu heutigen Preisen – aufgebracht werden“, warnte er. Zum Vergleich: Schon heute leistet der Bund jährlich Sozialversicherungszuschüsse in Höhe von rund 137 Mrd. Euro. Das ist mehr als ein Viertel des Bundeshaushalts. Weitere Zuschüsse seien schlicht nicht darstellbar, sagt Büttner. Sie würden den Bund obendrein „dazu zwingen, zukunftsorientierte Ausgaben etwa für Forschung, Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung zurückzuführen“.
Beitragssatz läuft aus dem Ruder
In der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) läuft der Beitragssatz am stärksten aus dem Ruder. Jürgen Wasem, Vorsitzender des Expertenrats Pflegefinanzen, warnt, dass dabei die Belastung durch die Babyboomer noch gar nicht abgebildet werde. Der Expertenrat hat eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung entwickelt, um die steigenden Eigenanteile in der stationären Pflege zu begrenzen. Diese verpflichtende „Pflegeplus-Versicherung“ gewährleiste zudem, „dass das angesparte Kapital eigentumsrechtlich vor politischer Zweckentfremdung geschützt wird“. Denn genau das befürchten die Wissenschaftler. Wenn der Staat einen Fonds auflegt, so Wasem, habe sich die Politik bisher immer „sehr erfinderisch“ gezeigt, um sich aus den Mitteln zu bedienen. Das zeige schon allein der Umgang mit dem Pflegevorsorgefonds, der die Pflegeversicherung langfristig stabilisieren soll. Allein eine private Kapitaldeckung wäre zumindest einigermaßen vor dem Zugriff des Staates geschützt.
„Kein Erkenntnisproblem!“
Florian Reuther, Verbandsdirektor des Privatkassenverbands, sprach von einem „Wetterleuchten“ quasi als letzte Warnung für die Politik, um endlich die nötigen Reformen anzugehen. Denn ein „Erkenntnisproblem gibt es nicht“, stellte er fest. Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU, Simone Borchardt, fordert von ihrer Partei endlich die Reformversprechungen wahr zu machen. Die Menschen würden immer noch auf den „Herbst der Reformen“ warten.
