Militärökonom Marcus Keupp

„Russland wird zum Entwicklungs­land“

Der Militärökonom Marcus Keupp über Putins neues Dekret zur Abrechnung von Gaslieferungen, die Folgen der Sanktionen für Russlands Banken, Unternehmen und die Rüstungsindustrie sowie die Rolle der Zentralbank.

„Russland wird zum Entwicklungs­land“

Eduard Steiner.

Herr Keupp, Russlands Präsident Wladimir Putin hat ein Dekret zu den neuen Zahlungsmodalitäten für Gas vorgestellt. Wie genau interpretieren Sie das?

Für mich sieht es so aus, dass ausländische Kunden nach wie vor in Euro oder Dollar bezahlen können. Aus Ziffer 6 des Erlasses geht hervor, dass sie künftig zwei Konten bei einer autorisierten Bank, zum Beispiel der Gazprom-Bank, haben müssen: ein Rubelkonto und ein Fremdwährungskonto. Demnach überweisen die Kunden das Geld in der im Gasliefervertrag angegebenen Währung. Die Bank konvertiert dann diese Fremdwährungen und schreibt die Erlöse in Rubel auf dem Sonderwährungskonto gut.

Also am Ende alles halb so wild mit Putins Drohung, Gasrechnungen auf Rubel umzustellen?

Ich halte es für überbewertet und für eine verbale Intervention, um den Rubel zu stützen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die westlichen Vertragspartner erpressen lassen. Im Extremfall könnte er das Gas abdrehen. Aber womit will er sein Staatsbudget verdienen? Stellen Sie sich vor: Zwei Menschen, die einander hassen, sitzen in einem Boot auf offener See. Wenn einer aussteigt, kentert das Boot, und der andere ertrinkt auch. Sie müssen also für den Moment und eine gewisse Zeit zusammenbleiben. Ich halte die Drohung mit dem Rubel also nicht für besonders glaubwürdig. So irrational, wie Putin in der westlichen Presse dargestellt wird, ist er nicht.

Neben dem militärischen Krieg zwischen Russland und der Ukraine befinden wir uns in einem Propagandakrieg von beiden Seiten. Was lässt sich jenseits davon über die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland schon jetzt sagen?

Bei der Versorgung der Bevölkerung besteht zwar noch kein Problem, aber ein Teil geht schon dazu über, vermehrt Vorräte anzulegen. Die Firmen in Russland, die auf den Handel mit dem Westen und Technologieimport angewiesen sind, bekommen Probleme mit der Produktion. Und ein Großteil der gut ausgebildeten urbanen Mittelschicht beginnt seit etwa zwei Wochen zu emigrieren. Aber man sollte nicht glauben, dass Russland von heute auf morgen implodiert. Das Land hat noch enorme Reserven. Und die russische Wirtschaft ist an Krisen gewöhnt.

Unterschätzen wir auch die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung?

Schon der Begriff Leidensfähigkeit hat eine sehr westliche Perspektive. Es ist ja nicht so, dass Russland schon ein düsteres Imperium wäre wie gegen Ende der Sowjetzeit, wo es nur das Militär und subventionierten Buchweizen gab. Aber wir könnten wieder dahinkommen, wenn die neuen Realitäten länger als ein paar Monate anhalten. Andererseits muss man sagen, dass genügend Länder aus pragmatischen Gründen bei den Sanktionen nicht mitmachen. Russland wird den Weg über diese Länder suchen. Wir reden viel über China, aber wir sollten mehr nach Zentralasien schauen.

Warum?

Vor allem Kasachstan hat umfassende Beziehungen zu Russland, aber auch zu asiatischen Staaten wie China. Kasachstan ist eine große Drehscheibe für den innerasiatischen Handel und Teil der chinesischen Handelsstraße Belt and Road. Russland hat genug Möglichkeiten, andere Wege zu finden. Nur eben mit enormen Kosten und Effizienzverlusten. Und man kann nicht alles umlenken. Gerade der Export von Öl, Gas und mineralischen Rohstoffen ist ganz stark nach Westen ausgelegt. Der russische Containerimport läuft über Rotterdam, aber auch Teile des Exports. Das Ganze ist also sehr differenziert zu betrachten.

Was bedeutet das für die Effizienz von Sanktionen?

Dass die USA nun zunehmend den Ländern, die sich für die Umgehung anbieten, mit sogenannten sekundären Sanktionen drohen. Das betrifft Staaten wie Kasachstan, Mexiko, Brasilien oder Indien. Will man den Krieg mit Sanktionen beenden, was ich momentan für nicht sehr realistisch halte, müsste man auch diese Länder ins Boot holen.

Aber das sind Dutzende Staaten …

… Ja, aber sie haben nicht ideologisch, sondern pragmatisch entschieden, weil sie eben wirtschaftlich noch zu einseitig von Russland abhängen. Brasilien etwa importiert den Großteil der Düngemittel aus Russland, Ägypten Getreide. Das alles wird sich in den nächsten zehn Jahren ändern, wenn die Weltwirtschaft sich umbaut. Kanada, USA und Australien etwa könnten unfassbar günstig Weizen produzieren und daher die Anbauflächen ausweiten. Möglichkeiten sind ausreichend da. Das Problem ist, dass man diese Kriegsentwicklung nicht vorausgesehen hat und deshalb jetzt am Markt Risikoprämien aufgrund des Angebotsschocks eingepreist werden.

Realistisch lässt sich daran kurzfristig nichts ändern, oder?

Kurzfristig nicht. Am schnellsten geht es bei Nahrungsmitteln, weil man auf der Welt mehrere Anbauzyklen gleichzeitig hat. Bei Öl und Gas ist es schwieriger. Insgesamt ist es wie bei früheren Krisen auch: Es passiert etwas Unvorhergesehenes am Markt, die Preise gehen hoch, und dann sehen neue Anbieter ihre Chance, die Lücke zu füllen. Wir sind jetzt in der Phase zwischen Preisschocks und neuen Angeboten.

Aber wenn Sie schon vom Umbau der Weltwirtschaft reden, impliziert das nicht, dass man Russland überhaupt ins Abseits stellt?

Zu einem großen Teil: ja. Und das ist auch die große Tragik. Russland war ja noch letztes Jahr auf einem sehr stabilen Wachstumskurs. Langfristig wird Russland seine Volkswirtschaft rückabwickeln und zu einem Entwicklungsland werden. Aber diese Tragik hat Russland sich selbst zuzuschreiben. Der internationale Handel basiert nun einmal ganz stark auf dem Völkerrecht.

Ist die partielle Rücknahme von Sanktionen nicht Teil der Verhandlungen über ein Ende des Krieges?

Das weiß ich nicht. Es könnte wohl nur im Rahmen einer größeren politischen Lösung, etwa einer Friedenskonferenz stattfinden.

Droht Russland schon allein mit den bestehenden Sanktionen eine Mangelwirtschaft?

Ja. Und eine Verringerung der Qualität. Nehmen Sie beispielsweise die Landwirtschaft. Zwei große westliche Hersteller von Agrarmaschinen haben sich aus Russland zurückgezogen. Man hat also künftig das Problem mit Ersatzteilen, und die Agrarproduktion wird insgesamt ineffizienter.

Putin scheint bereit, diesen Wohlstandsverlust in Kauf zu nehmen.

Das ist Teil des Problems. Putin richtet, volkswirtschaftlich gesehen, langfristig einen sehr, sehr großen Schaden an. Vielleicht ist es ihm nicht be­­wusst, vielleicht ist es ihm auch egal.

Müsste in Russland nicht längst eine Bankenkrise herrschen?

Ich denke, wir bemerken sie einfach noch nicht, weil das von den russischen Institutionen möglichst kaschiert wird. Bedenken Sie: Wer hat denn vergangene Woche alle russischen Staatsanleihen aufgekauft? Die Zentralbank. Und wo soll es hingehen, wenn Ausländer an der wiedereröffneten Börse nicht handeln dürfen und die Zentralbank die Aktien erwirbt, um die Kurse zu stützen? Ein Großteil der russischen Unternehmensfinanzierung ist in Euro und US-Dollar. Was passiert mit Unternehmenskrediten? Und was passiert, wenn die Unternehmensanleihen neu ausgegeben werden müssen? Die Zentralbank wird gewaltige Rettungsprogramme auflegen müssen. Derzeit gibt es dazu noch Reserven. Aber wenn die weg sind, wird die Zentralbank zur Inflationspolitik übergehen müssen. Oder der Staat muss Banken verstaatlichen.

Welche der Sanktionen halten denn Sie für die schwerste? Das Einfrieren der Währungsreserven oder das Exportverbot für Halb­leiter nach Russland?

Beides. Ersteres ist für die Zentralbank eine Katastrophe, weil es ihre Handlungsfähigkeit großteils be­schneidet. Zweiteres ist für die langfristige Innovationsfähigkeit eine Katastrophe.

Sie sprechen von katastrophalen Folgen für die Wirtschaft, nehmen aber den russischen Rüstungssektor – soweit ich Ihre Analysen kenne – aus. Warum halten Sie ihn quasi für immun gegen Sanktionen?

Man sagt im Westen gern, die russische Rüstungsindustrie ist so ineffizient und überschuldet. Aber das ist kein Problem, denn der Staat hat schon öfter die Schulden gestrichen. Und wenn Deviseneinnahmen wegbrechen, würde die Notenbank eben zur Inflationspolitik übergehen. Das hätte zwar die Entwertung der Ersparnisse der Menschen zur Folge. Aber im Zweifelsfall würde Russland das Militärische gegenüber dem Sozialen priorisieren.

Bleibt der technologische Aspekt. Warum soll der Rüstungssektor hier autark sein?

Der russische Krieg ist kein Hightech-Krieg, sondern wird mit relativ einfachen mechanisierten Systemen am Boden ausgetragen. Hier kommt einfach die weiterentwickelte sowjetische Technologieplattform in der Produktion zum Einsatz. Und das ist im Wesentlichen russische Eigenproduktion. Der Krieg könnte also noch sehr lange weitergehen, weil die Rüstungsindustrie produzieren kann und auch die eigene Rohstoffversorgung gegeben ist. Man sollte das russische Industriepotenzial hier nicht unterschätzen. Wie sehr indes bei höherwertigen Industrieprodukten eine Importsubstitution gelingt, ist eine andere Frage. Dieser Prozess braucht Zeit, und da wird es sicher künftig zu Produktionsausfällen kommen. Russland ist viel zu wenig auf einen autarken Weg vorbereitet. Und es hat das Ausmaß der Sanktionen unterschätzt. Andernfalls hätte es den Krieg vermutlich nicht begonnen.

Ist ein wirtschaftlich schwaches Russland nicht gefährlicher als ein starkes?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Ein Grund, warum die Sowjetunion letztlich zusammengebrochen ist, war das Unvermögen, die eigene Versorgung sicherzustellen. Andererseits ist ein starkes Russland nicht zwingend stabil oder friedlich. Nehmen Sie die Zeit von 2000 bis 2020, in der es Russland so gut ging wie nie und auch umfassende Handelsbeziehungen mit dem Westen aufgebaut worden sind. Und am Ende gibt es jetzt einen Krieg.

Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass ein verarmtes Russland ein erstrebenswertes Ziel ist.

Da haben Sie sicher recht. Aber ein wirtschaftlich starkes und gleichzeitig aggressives Imperium auch nicht.

Das Interview führte

BZ+
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