Zu niedrige Produktivität

So wollen Lagarde und Nagel den Binnenmarkt stärken

Die Produktivität in Europa ist niedrig. EZB-Präsidentin Christine Lagarde und Bundesbankpräsident Joachim Nagel fordern eindringlich mehr Tempo bei Reformen – und unterbreiten Vorschläge, worauf die EU ihren Fokus legen sollte.

So wollen Lagarde und Nagel den Binnenmarkt stärken

Wie die EZB den Binnenmarkt stärken will

Lagarde und Nagel fordern optionalen, EU-weiten Rechtsrahmen für Firmen sowie einfachere Regulierung – Hoher Zeitdruck

Die Produktivität in Europa ist niedrig, die Vollendung von Binnen- und Kapitalmarkt weiterhin unvollständig. EZB-Präsidentin Christine Lagarde und Bundesbankpräsident Joachim Nagel fordern eindringlich mehr Tempo – und unterbreiten Vorschläge, worauf die Europäische Union ihren Fokus legen sollte.

mpi Frankfurt

EZB-Präsidentin Christine Lagarde und Bundesbankpräsident Joachim Nagel betonen in ihren Reden auf dem European Banking Congress (EBC) in Frankfurt die hohe wirtschaftliche Kraft, die ein vollendeter europäischer Binnenmarkt hätte. „Dies ist eine enorme Verschwendung von Potenzial – vor allem in einer Zeit, in der wir uns mehr auf uns selbst als auf andere verlassen müssen“, sagte Lagarde zur aktuellen Lage. „Dabei ist der entscheidende Punkt, dass radikale Veränderungen nicht notwendig wären, um diese Vorteile zu erzielen.“

Eine volle Harmonisierung aller Regulierungen in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sei weder politisch umsetzbar noch nötig. Ein großer Fortschritt wäre jedoch, wenn es zu mehr „gegenseitiger Anerkennung“ käme. Eine Dienstleistung oder ein Produkt, das in einem EU-Staat erlaubt ist, sollte laut Lagarde in der gesamten EU frei handelbar sein, ohne dass es den granularen Vorschriften jedes einzelnen Mitgliedsstaates entsprechen muss. Als eine Hürde für den Binnenmarkt bezeichnete Lagarde unter anderem die unterschiedlichen Mehrwertsteuerregelungen, die den staatenübergreifenden Handel erschweren.

Um für mehr Harmonisierung in Europa zu sorgen, unterstützt Lagarde das Vorhaben eines optionalen, EU-weiten Rechtsrahmen für Firmen – das sogenannte 28. Regime, das Mario Draghi und Enrico Letta in ihren jeweiligen Berichten an die EU vorgeschlagen haben.

Finanzierungen verbessern

Auch Joachim Nagel plädierte auf dem EBC für die Einführung des 28. Regimes. „Dieser Rechtsrahmen würde grenzüberschreitende Transaktionen vereinfachen, Compliance-Kosten noch weiter reduzieren und Unternehmen eine schnellere Expansion ermöglichen.“ 

Das alleine reicht laut Nagel jedoch nicht. Es brauche dringend tiefere und stärker integrierte Kapitalmärkte. Startups hätten einen zu schlechten Zugang zu Wagniskapitalfinanzierungen. Doch auch größere Unternehmen kämen durch die Fragmentierung in Europa zu schlecht an Liquidität. Das bremse das Wirtschaftswachstum aus.

Hoher Zeitdruck

Nagel und Lagarde mahnen die EU zu Tempo bei Reformen. „Wenn wir unseren Binnenmarkt wirklich einheitlich gestalten, hängt das Wachstum Europas nicht mehr von den Entscheidungen anderer ab, sondern von unseren eigenen Entscheidungen“, sagte Lagarde. „Das war meine Botschaft vor sechs Jahren. Heute ist diese Botschaft nur noch dringlicher geworden. Weitere sechs Jahre Untätigkeit – und verlorenes Wachstum – wären nicht nur enttäuschend. Sie wären unverantwortlich.“ Zugleich betonte Lagarde, dass eine Vollendung des Binnenmarktes die Belastungen für die Euro-Wirtschaft durch die US-Zölle bei weitem überkompensieren würden.

Ähnlich hatte sich zuletzt der Internationale Währungsfonds (IWF) geäußert. Die Produktivität der EU könne um 20,2% zunehmen, würden Strukturreformen umgesetzt, die Hemmnisse im Binnenhandel ausgeräumt und die Mobilität von Arbeitskräften auf das Niveau der USA gehoben. So könnte Europa auch seine Produktivitätslücke zu den Vereinigten Staaten schließen.

Statistische Tücken

Nagel sieht zwar auch dringenden Handlungsbedarf für Europa. Er verweist aber darauf, dass die Ausgangslage vielleicht gar nicht so schlecht ist, wie häufig öffentlich dargestellt. Denn Produktivität sei letztlich nur Mittel zum Zweck. Das eigentlich entscheidende sei der Lebensstandard der Bevölkerung.

Dieser lässt sich nicht so einfach bestimmen, weil etwa ein Blick rein auf das Bruttoinlandsprodukt zu kurz greift. Zudem führt Nagel in seiner Rede einige statistische Tücken an. Für einen Vergleich des Lebensstandards müsste man Preisniveauunterschiede berücksichtigen. Statistiker arbeiten hierfür in der Regel mit Kaufkraftparitäten. Der dafür nötige einheitliche Korb von Waren und Dienstleistungen ist laut Nagel „nicht vollständig repräsentativ für alle betrachteten Länder.“ Hinzu komme, dass Datenlücken auftreten und Preise daher teils geschätzt werden müssen. 

„Mit großer Sicherheit lässt sich aber Folgendes sagen: Unter Berücksichtigung von Preisniveauunterschieden und ihren Veränderungen hat sich der Lebensstandard in Europa verglichen mit den Vereinigten Staaten nicht so schlecht entwickelt, wie die unbereinigten Zahlen vermuten lassen.“ Ein Grund für Europa, sich zurückzulehnen, sei das aber nicht.