Stabilitätsbeirat kritisiert Schuldenpolitik von Bund und Ländern
Stabilitätsbeirat kritisiert Schuldenpolitik
Bund und Länder fühlen sich auf dem europäisch vorgegebenen Abbaupfad für die öffentlichen Defizite
wf Berlin
Für Bund und Länder steht der Abbaupfad des strukturellen Defizits nach den Krisenjahren expansiver Fiskalpolitik im Einklang mit den EU-Fiskalregeln. Der unabhängige Stabilitätsbeirat übt indessen deutliche Kritik: Aktuell werde das Defizit zu pessimistisch, mittelfristig zu optimistisch eingeschätzt.
Die Finanzminister von Bund und Ländern sehen die Lage der öffentlichen Haushalte etwas entspannter als noch im Dezember, doch die Herausforderungen seien noch groß. „Die finanzpolitischen Rahmenbedingungen sind nach wie vor schwierig“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) am Dienstag vor Journalisten nach der Sitzung des Stabilitätsrats von Bund und Ländern in Berlin. Zum Glück hätten sich die pessimistischen Szenarien aus dem Dezember nicht erfüllt, erklärte Lindner. Dennoch seien die öffentlichen Haushalte stark beansprucht. Auch Marcus Optendrenk, Nordrhein-Westfalens Finanzminister und Co-Vorsitzender des Stabilitätsrats, hielt fest, dass die Zeiten „möglicherweise etwas weniger schwierig“ seien als im Dezember erwartet. „Das heißt aber nicht, dass wir endgültig über den Berg sind“, sagte Optendrenk.
Der Stabilitätsrat überwacht die Fiskalpolitik von Bund und Ländern. Das Gremium tagt zweimal im Jahr. Für 2023 erwartet der Stabilitätsrat ein gesamtstaatliches Defizit von 4,25% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dies sei stark auf temporäre Krisenmaßnahmen zurückzuführen. Das konjunkturbereinigte strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit werde bei 3,25% des BIP liegen und bis 2026 auf rund
0,75% des BIP sinken. Diese Zahlen hatte Berlin bereits vergangene Woche mit dem Stabilitätsprogramm zum Maastricht-Vertrag nach Brüssel gemeldet. Deutschland halte mit dem Abbaupfad den Richtwert der europäischen Haushaltsüberwachung ein, das strukturelle Defizit um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr abzubauen, ist der Stabilitätsrat überzeugt. Zugleich werde die Schuldenstandsquote bis 2026 auf 65,5% des BIP zurückgeführt.
Die Entwicklung der Energiepreise könnte das Ergebnis für die öffentlichen Haushalte deutlich günstiger ausfallen lassen, machte Lindner deutlich. Im Stabilitätsprogramm hatte die Bundesregierung ein Defizit von 1,25% und ein strukturelles Defizit von 0,75% für diesen Fall gemeldet. Die staatlichen Kosten für die Strom- und Gaspreisbremse dürften wegen der wieder gesunkenen Preise deutlich geringer ausfallen als geschätzt. Sie sind im Wirtschaftsplan eines Sondervermögens – dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds – eingeplant. Lindner erinnerte daran, dass die Kreditermächtigungen in den Sondervermögen zweckgebunden seien. Würden die Mittel nicht benötigt, verfielen die Kreditermächtigungen.
„Alte und unvollständige Zahlen“
Der unabhängige wissenschaftliche Beirat des Stabilitätsrats kritisierte die Finanzprojektion des Bund-Länder-Gremiums. Sie sei veraltet und unvollständig, sagte der Vorsitzende des Gremiums, Thies Büttner, vor der Presse. Auch den geplanten Abbaupfad des strukturellen Defizits bemängelt der Beirat: Dieser werde sich dem mittelfristigen Haushaltsziel in der Eurozone von 0,5% des BIP nicht ausreichend annähern, sind die Wissenschaftler überzeugt. Die Defizitquote für dieses Jahr hält der Beirat für überzeichnet (siehe Grafik). Andere Institutionen bereinigten ihre Berechnungen um nicht zu erwartende Ausgaben und andere Effekte. Zum Ende der Projektion 2026 überwiegen laut Büttner die Risiken für eine höhere Defizitquote. Mit der Nutzung der Notlagenkredite entstünden bei Bund und Ländern „gewichtige Defizite“.
Der Beirat war 2010 mit der Reform der Finanzverfassung zur Überwachung der öffentlichen Haushalte gegründet worden. Im Stabilitätsrat kontrollieren sich Bund und Länder praktisch selbst. Der Beirat darf nur mahnen. Die Wissenschaftler monieren, dass die Projektion des Stabilitätsrats auf überholten Wachstumszahlen des Bundes vom Winter beruhe. Im April legte die Bundesregierung eine aufgehellte Konjunkturerwartung vor. Diese sei nicht eingeflossen. Zudem mahnt der Stabilitätsbeirat die gesetzlich verpflichtende, vier Jahre umfassende Vorschau an. Diese kann Lindner wegen der stockenden Haushaltsaufstellung 2024 nicht liefern. Daran hängt auch die mittelfristige Finanzplanung des Bundes bis 2027.
