Tariflöhne in Europa legen zu
Tariflöhne in Europa legen zu
Erstes reales Wachstum seit 2021 – WSI: Weiterer Aufholbedarf – Streikreiche Jahre
ba Frankfurt
Tarifbeschäftigte in Europa haben im vergangenen Jahr erstmals seit dem Inflationsschub des Jahres 2021 einen realen Lohnzuwachs erzielt. Teils mussten die Gewerkschaften dafür aber hart kämpfen, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung betont: „Die vergangenen beiden Jahre waren in Europa ausgesprochen streikreich“, heißt es im neuen Europäischen Tarifbericht. Dennoch bestehe bei den Tariflöhnen weiter Aufholbedarf.

2024 legten die Tariflöhne im Euroraum um nominal 4,5% zu. Real, also nach Abzug der Inflation, verbleibt den Beschäftigten ein Plus von 2,1%. Die höchsten Kaufkraftgewinne gab es in Österreich (5,4%), Portugal (4,5%) und der Slowakei (3,8%). Deutschland liegt mit 2,8% leicht über dem Schnitt.
„Gegenbewegung“
Die jüngsten Zugewinne sehen die Studienautoren Thilo Janssen und Malte Lübker als Gegenbewegung, nachdem die Tarifsteigerungen während der jüngsten Inflationskrise zunächst deutlich hinter die explodierende Inflationsrate zurückgefallen waren – was häufig an den langen Laufzeiten von Tarifverträgen lag. Während Preiserhöhungen bei vielen Unternehmen zu steigenden Gewinnmargen führten, erlitten Beschäftigte Kaufkraftverluste. „Der Aufholprozess ist allerdings noch nicht abgeschlossen, sodass hohe Lohnforderungen weiterhin Berechtigung haben“, sagt Lübker.
Nur Portugal liegt über dem Niveau von 2020
Mit Ausnahme Portugals liegen die realen Tariflöhne in allen Ländern noch unterhalb des Niveaus von 2020. Besonders drastisch sind laut WSI die Verluste in Tschechien (–11,4%), Italien (–9,1%) und Spanien (–5,6%). Während das WSI für Deutschland einen Rückstand gegenüber dem Jahr 2020 von 4,7% ausweist, zeigt der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes (Destatis) wegen methodischer Unterschiede eine Lücke von 7,8% bzw. von fast 10%, je nachdem, ob Sonderzahlungen berücksichtigt werden oder nicht. Nachdem die realen Tariflöhne im Euroraum 5% unterhalb des Niveaus von 2020 haben, bezeichnen die WSI-Experten das Abflachen des Tariflohnwachstums, das etwa von der EZB erwartet wird, bedenklich.
Streikreiche Jahre
Das Arbeitskampfvolumen hat 2023 und 2024 deutlich zugelegt – selbst in Ländern wie Österreich, in denen sonst kaum gestreikt wird. Deutschland liegt mit einem Streikaufkommen von jährlich 21 Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigten – oder einer 10-minütigen Kaffeepause je einzelnem Beschäftigten – gemeinsam mit den Niederlanden im europäischen Mittelfeld. Deutlich streikfreudiger sind Frankreich (102 Ausfalltage), Belgien (107) oder Finnland (93). Debatten um eine weitere Einschränkung des Streikrechts in Deutschland gehen für Janssen und Lübker an der Realität vorbei: „Weder ist das Streikvolumen besonders hoch, noch ist das Streikrecht besonders liberal.“