Im Interview:Jan Mischke, McKinsey

„Unser Wohlstand steht auf dem Spiel“

Zu wenig Investitionen, zu zaghafte Digitalisierung, und zu viel Bürokratie – die Produktivität der deutschen Wirtschaft liegt am Boden. Wohlstandsverluste drohen. Deutschland muss umsteuern, fordert McKinsey-Ökonom Mischke, und endlich mehr in Bildung, F&E, Infrastruktur und industriellen Wandel investieren.

„Unser Wohlstand steht auf dem Spiel“

„Unser Wohlstand steht auf dem Spiel“

McKinsey-Ökonom Mischke fordert eine Kehrtwende bei Investitionen und Innovationen – Höhere Produktivität als Schutz vor der nächsten Finanzkrise

Zu wenig Investitionen, zu zaghafte Digitalisierung und zu viel Bürokratie – die Produktivität der deutschen Wirtschaft liegt am Boden. Wohlstandsverluste drohen. Deutschland muss umsteuern, fordert McKinsey-Ökonom Mischke, und endlich mehr in Bildung, F&E, Infrastruktur und industriellen Wandel investieren.

Herr Mischke, McKinsey hat einen dramatischen Produktivitätseinbruch bei den Industrieländern in den vergangenen zehn Jahren diagnostiziert. Was sind die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft?

Produktivitätswachstum, d.h. zusätzlich geschaffener Mehrwert pro geleistete Arbeitsstunde, ist heute dringender denn je. Nur dadurch können Löhne nachhaltig steigen, und es ist die beste Antwort auf den demografischen Wandel oder Finanzierungsfragen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen. Aber auch unser Wohlstand steht auf dem Spiel: Seit der Jahrtausendwende ist die globale Bilanz um etwa ein Drittel gegenüber der Wirtschaft angeschwollen – durch stark steigende Verschuldung und damit im Zusammenhang stehende Vermögenspreisgewinne. Durch höheres Produktivitätswachstum kann die Wirtschaftsleistung die Bilanz wieder „einholen“ – und so einer Entwertung durch Inflation oder Risiken einer Finanzkrise vorbeugen.

Warum gab es diesen Einbruch? Ist das nur eine Spätfolge von Finanzkrise und Corona?

Diese Krisen spielen tatsächlich eine starke Rolle. Ein Rückgang der Nettoinvestitionen um etwa die Hälfte nach der Finanzkrise ist für etwa die Hälfte des Produktivitätseinbruches verantwortlich – Corona hat den sehr langsamen Wiederanstieg nochmals jäh unterbrochen.

Und die andere Hälfte?

Die andere Hälfte des Einbruchs schreibt unsere Forschung dagegen dem Ende zweier Produktivitätswellen in der Industrie zu. Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre gab es rapide Fortschritte in der Leistungsfähigkeit von elektronischer Hardware (Moore’s Law), die sich verlangsamt haben, seitdem Nutzer mehr Wert auf Eigenschaften wie Batteriezyklen legen. Zum anderen gab es einen Schub durch Offshoring einfacher und arbeitsintensiver Produktionsschritte – der mittlerweile seinen Lauf genommen hat.

Jan Mischke ist Partner beim McKinsey Global Institute (MGI). Von Zürich aus leitet er seit 2010 die Forschung des MGI zu Produktivität und Wohlstand. Vor seiner Zeit beim MGI, arbeitete Jan Mischke 10 Jahre lang als Unternehmensberater bei McKinsey.

Es wird in Deutschland nicht einmal genügend investiert, um die Substanz zu erhalten.

Eigentlich wäre zu erwarten, dass die Digitalisierung für einen Produktivitätsschub sorgen wird. Aber außer der Aktienhausse bei den Tech-Werten scheint ja bei der Volkswirtschaft nichts hängengeblieben zu sein, wie die Studie vermuten lässt. Warum?

Der ICT-Sektor selbst hat in der Tat schon seit zwei Dekaden stark zum Produktivitätswachstum beigetragen – aber in den Statistiken anderer Sektoren ist von digitaler Transformation noch weniger zu sehen. Teilweise braucht das einfach Zeit: Produktiveren Online-Händlern, z.B., stehen für lange Zeit Produktivitätsverluste in Kaufhäusern gegenüber, denen weniger Kunden zulaufen. Aber teils hatten Digitalisierungsprojekte auch keinen vorteilhaften „business case“, wenn man Kosten- und Terminüberschreitungen mit berücksichtigt oder Skaleneffekte fehlen.

Wird die Tech-Welle im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz mehr zum Produktivitätswachstum beitragen als die Digitalisierung zuvor?

Die Kombination aus beidem wird entscheidend sein und kann langfristig nach unserer Schätzung 0.7 bis 1.7 Prozentpunkte zum Produktivitätswachstum beitragen. Insbesondere wird KI es erlauben, einfacher und schneller positiven Nutzen aus der Digitalisierung zu ziehen. Allerdings gibt es noch keine verlässliche Antwort, wann diese Beschleunigung kommen wird – neue Technologien brauchen oft viele Jahre, bis sie sich in den Statistiken niederschlagen.

Und wer profitiert dann? Vorzugsweise die Industrieländer oder doch auch die Schwellen- und Entwicklungsländer?

Sowohl Industrie- als auch Schwellen- und Entwicklungsländer können aus der KI hohen Nutzen ziehen.

Gezielte Industriepolitik ist zum Aufbau von Technologien und Sektoren, die noch in den Kinderschuhen stecken, auch ökonomisch vertretbar.

Wie kann man die von Ihnen diagnostizierte nachhaltig schrumpfende Produktivität wieder auf einen Wachstumspfad lenken?

Man muss genau da ansetzen, wo der Schuh derzeit drückt: zu wenig Investitionstätigkeit und zu langsame digitale Transformation. Es gibt viele Ansatzpunkte, um Investitionen zu stimulieren. Aber einer sticht hervor: Eine starke Konjunktur und Nachfrage verleitet Unternehmen am besten dazu, in Automatisierung und Kapazitätserweiterungen zu investieren. Das ist in den USA langsam sichtbar, Europa muss noch mehr tun. Daneben müssen Barrieren – nicht zuletzt regulatorischer Art – aus dem Weg geräumt werden. Auch gezielte Industriepolitik ist wieder salonfähig geworden – und gerade zum Aufbau von Technologien und Sektoren, die noch in den Kinderschuhen stecken, auch ökonomisch vertretbar. Investitionen in KI, Digitalisierung, den Aufbau eines Tech-Sektors, aber auch Fortschritte in Cleantech können gerade Europa voranbringen.

Wenn Sie auf das wachstumsschwache Deutschland blicken, dessen Wirtschaft zudem mit hohen Energiepreisen und Fachkräftemangel zu kämpfen hat: Was würden Sie der Politik raten, um möglichst schnell aus der Produktivitätsdelle herauszukommen?

Für Deutschland gilt das Gleiche wie für andere Industrienationen – in noch pointierterer Weise. Die Nettoinvestitionen sind in Deutschland seit der Dotcom-Krise auf nur mehr ca. 2% des BIP gefallen – etwa die Hälfte des ebenfalls schwachen Niveaus in den USA oder Frankreich. Öffentliche Nettoinvestitionen sind in Deutschland seit langer Zeit negativ, d.h. es wird nicht einmal genügend investiert, um die Substanz zu erhalten.

Daneben steht Deutschlands Industrielandschaft vor einer großen Transformation: Energieintensive Industrien haben an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, und auch in klassisch starken Zweigen wie der Automobilwirtschaft verlagert sich der Wettbewerb zunehmend in Richtung Software oder Batterietechnologie. Deutlich höhere Investitionen in Bildung, F&E, Infrastruktur und industriellen Wandel sind zwingend nötig, um den Wohlstand zu halten und weiteren Fortschritt zu machen.

Das Interview führte Stephan Lorz.

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