Bundestagswahl 2021

Verbände befürchten neuerliche Hängepartie

Nach der Geduldsprobe von 2017 dringen Verbände auf mehr Tempo bei der Regierungsbildung. Volkswirte und Analysten rechnen eher mit Ampel-Koalition.

Verbände befürchten neuerliche Hängepartie

rec/lz Frankfurt

In der deutschen Wirtschaft machen sich nach dem knappen Wahlausgang Sorgen über eine erneut zähe Regierungsbildung breit. Zwar überwiegt die Erleichterung, dass der befürchtete Linksruck ausgeblieben ist (siehe Text oben), zugleich dringen die Verbände aber unisono auf Tempo. Was das künftige Regierungsbündnis betrifft, halten Volkswirte und Analysten quasi einhellig die Bildung einer Ampel-Koalition unter einem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für etwas wahrscheinlicher, als dass sich FDP und Grüne auf ein Jamaika-Bündnis unter Führung von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet einlassen.

Die Aussicht auf eines dieser beiden Dreierbündnisse nährt Befürchtungen, dass sich ein Szenario wie 2017 wiederholt. Seinerzeit dauerte es fast ein halbes Jahr, bis sich Union und SPD auf eine Neuauflage der großen Koalition einigten. Zuvor hatte die FDP die Verhandlungen mit CDU und Grünen über eine Jamaika-Koalition aufgekündigt.

„Auch wenn die Ausgangslage herausfordernd ist: Deutschland braucht nun schnell Klarheit, wer die kommende Bundesregierung stellt“, sagte der Präsident des Bankenverbandes, Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing. Vertreter mehrerer Verbände warnten vor einer „Hängepartie“. „Die taktischen Spiele von damals haben wertvolle Zeit gekostet“, sagte Achim Berg, Chef des Digitalverbandes Bitkom. Auch der Chef des Industrieverbands BDI, Siegfried Russwurm, forderte, von „taktischen Manövern“ Abstand zu nehmen. Wolfgang Weber vom Elektroindus­trieverband ZVEI sagte, es müsse „schnell eine handlungsstarke Koalition zusammenfinden“, auch wenn die Konstellation „komplex“ erscheine. „Deutschland braucht Aufbruchstimmung“. Der Handelsverband HDE forderte, die Politik müsse „Handlungsfähigkeit zeigen“. Auch aus Ökonomenkreisen kamen solche Appelle: Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, verlangt „Tempo und Mut bei der Regierungsbildung“.

„Die Mischung macht’s“

Was die möglichen Koalitionen angeht, so schließt Ingo R. Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors, eine neuerliche große Koalition aus. Diese politische Ehe sei nach zwölf gemeinsamen Regierungsjahren „stark zerrüttet“, sagte Mainert der Börsen-Zeitung. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland bei Black­Rock, sieht hier die FDP in einer starken Verhandlungsposition. Auch Volkswirte und Analysten anderer Banken und Finanzinstitute räumen dem siegreichen SPD-Kanzlerkandidaten Scholz bessere Chancen als Laschet ein, mit FDP und Grünen eine Ampel-Koalition zu bilden. Der Mittelstandsbund trommelte für ein Jamaika-Bündnis. Dagegen vermied der Verband Die Familienunternehmer eine Präferenz für eine der beiden Konstellationen, nachdem das „Worst-Case-Szenario“ Rot-Rot-Grün abgewendet sei. „Die Mischung macht’s: Aus Gelb und Grün könnte eine Klimaschutzpolitik entstehen, die tatsächlich CO2-Emissionen marktwirtschaftlich einspart und nicht nur erneuerbare Energien planwirtschaftlich verteuert“, zeigte sich Verbandschef Reinhold von Eben-Worlée zuversichtlich.

Inhaltlich rechnet der Wirtschaftsweise Volker Wieland damit, dass der Klimawandel im Zentrum der künftigen Politik steht. Die Grünen würden viel herausholen können, wenn auch die Schuldenbremse wohl bestehen bleibe und Steuererhöhungen vermieden werden könnten. Schließlich könne auch ein CO2-Preis einiges an Einnahmen generieren, sagte Wieland der Börsen-Zeitung. Nach Ansicht von Marija Kolak, Präsidentin des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), geht es darum, dass die neue Regierung eine wirtschaftliche Aufbruchstimmung entfacht. Sie müsse zeigen, „dass es nicht nur um neue Regulierung oder neue Belastungen geht, sondern auch Spielraum für wirtschaftliche Innovation und Dynamik vorhanden ist“. Das ist auch das Anliegen von Evonik-Chef Christian Kullmann: Klimaschutz, Wirtschaftswachstum und sichere Arbeitsplätze müssten „in Einklang“ gebracht werden.

Symbolthema Tempolimit

Besonderes Augenmerk dürfte in den Sondierungsgesprächen und den Koalitionsverhandlungen auf den Themen Steuern und Staatsfinanzen liegen. Hier zeigt sich eine mögliche Sollbruchstelle für eine Verständigung von FDP und Grünen. Die Liberalen treten als strenge Wächter der Schuldenbremse auf und schließen Steuererhöhungen kategorisch aus. Die Grünen wollen hingegen für öffentliche Investitionen Ausnahmen von der Schuldenbremse zulassen und punktuell Steuern erhöhen. Eiko Sievert, Direktor der Ratingagentur Scope, sieht gleichwohl „breiten Konsens“ in Sachen fiskalischer Disziplin und Achtung der Schuldenbremse. Zu erwarten sei, „dass eine Ampel-Koalition etwas mehr Gewicht darauf legen würde, die Investitionslücke in Deutschland anzugehen, während eine Jamaika-Koalition wahrscheinlich etwas mehr Wert auf Haushaltsdisziplin legen würde“, sagte Sievert. Stefan Kooths, Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft, schränkte mit Verweis auf die Belastungen der Coronakrise für den Staatshaushalt ein: „Anders als die Vorgängerregierung kann die neue Koalition nicht mehr aus dem Vollen schöpfen.“

Als Knackpunkt könnte sich die Besetzung wichtiger Ministerien erweisen. Das Finanzministerium dürfte im Falle einer Ampel-Koalition nach allgemeinem Dafürhalten an FDP-Chef Christian Lindner gehen. Um den Grünen ein Jamaika-Bündnis schmackhaft zu machen, käme in diesem Fall aber wohl auch Grünen-Co-Chef Robert Habeck ins Spiel. Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält das Verkehrsministerium für ein Schlüsselressort für die Grünen: Symbolträchtige Vorhaben wie Aus für den Verbrennungsmotor und ein Tempolimit von 130 „dürften für die FDP und Lindner kein unüberwindbares Hindernis sein, denn es ist für die Industrie ohne große Bedeutung“, mutmaßt Dudenhöffer. „Die nächste Bundesregierung könnte damit deutlich schneller entschieden werden, als viele vermuten.“