Krieg in der Ukraine

Was der Welt­wirtschaft jetzt droht

Als Energie- und Gaslieferant sind Russland und die Ukraine zentral für die Weltwirtschaft. Was bedeutet die Eskalation für das globale Wachstum? Die Börsen-Zeitung hat prominente Ökonomen befragt.

Was der Welt­wirtschaft jetzt droht

Von Mark Schrörs, Frankfurt

Mit der militärischen Eskalation in der Ukraine ist jetzt das Szenario eingetreten, das Ökonomen auch mit Blick auf die Weltwirtschaft stets als Schreckensszenario, als Worst Case, bezeichnet hatten. Die genauen ökonomischen Folgen sind aktuell zwar kaum abzuschätzen. Vieles hängt davon ab, wie sich der Konflikt weiter entwickelt und welche Sanktionen und Gegensanktionen es noch gibt. Es zeichnet sich aber ab, dass es weniger Wachstum und mutmaßlich noch mehr Inflation geben dürfte. Tatsächlich fällt jetzt auch das Wort „Stagflation“ wieder häufiger.

Energie im Fokus

Bereits vor den mehrstufigen Eskalationen des Konflikts in dieser Woche hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) gewarnt, dass das globale Wachstum auch wegen der stark zunehmenden geopolitischen Spannungen schwächer ausfallen dürfte als erwartet. Erst im Januar hatte der IWF seine Prognose für das weltweite Wachstum in diesem Jahr von zuvor 4,9% auf 4,4% gekürzt. Nun dürfte die Einschätzung noch etwas pessimistischer sein.

Die Ukraine und selbst Russland sind für die allgemeine Entwicklung der Weltwirtschaft zwar eher von ge­ringem Gewicht. Als Energie- und Gaslieferant spielen sie aber eine große Rolle. Die Diskussion über die wirtschaftlichen Folgen fokussiert sich denn auch vor allem auf diesen Aspekt. Die in den vergangenen Wo­chen weiter rasant gestiegenen Gaspreise gehen zumindest auch auf den Ukraine-Konflikt zurück. Und wie zur Bestätigung kletterte der Ölpreis am Donnerstag erstmals seit 2014 über 100 Dollar je Barrel Brent.

„Die Energiepreise werden der wesentliche Faktor sein, über den sich der Konflikt auf Europa und auf die gesamte Weltwirtschaft auswirkt“, sagte Christian Keller, Chefvolkswirt der britischen Großbank Barclays, der Börsen-Zeitung. Keller betonte zugleich, dass es noch weitere Rohstoffe gebe, bei denen Russland und Weißrussland sowie die Ukraine eine wesentliche Rolle spielten – wie zum Beispiel bei Getreide oder dem für die Halbleiter-Produktion zentralen Palladium: „Es gibt über die Energiepreise hinaus noch eine Reihe anderer Kanäle, über die der Konflikt die Inflation und Lieferengpässe verschlimmern kann.“

Tatsächlich ist vor allem die Sorge sehr ausgeprägt, dass die sowie sehr hohe Inflation weiter angeheizt wird. Schon jetzt liegt die Teuerung vielerorts deutlich über dem verbreiteten 2-Prozent-Ziel – in den USA bei mehr als 7%, in Euroland bei mehr als 5%. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnete am Donnerstag vor, dass ein weiterer Anstieg der Gaspreise um 50% die deutsche Inflation im Jahr 2022 auf 6,1% steigen lassen könnte. „Die Inflation dürfte dadurch noch etwas mehr nach oben getrieben werden“, sagte auch der Wirtschaftsweise Volker Wieland der Börsen-Zeitung.

Wegen der anhaltend hohen Inflation hatte die US-Notenbank Fed zuletzt eine radikale Kehrtwende vollzogen und eine spürbare Verschärfung ihrer Geldpolitik ab März avisiert. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) steuert nach langem Zögern auf eine etwas raschere Zinswende zu. Begleitet wird das stets von Sorgen um den Aufschwung.

Diese Konjunktursorgen werden nun durch die eskalierende Krise verstärkt. Zum einen bedeutet eine weiter steigende Inflation einen zusätzlichen Kaufkraftverlust – was den privaten Konsum dämpfen dürfte, der als großer Hoffnungsträger nach der Pandemie galt und gilt. Zum anderen drohen psychologische Schäden. „Die Eskalation des militärischen Konflikts wirkt sich über den unmittelbaren Schock an den Finanzmärkten unmittelbar auf das wirtschaftliche Vertrauen aus“, sagte Lena Komileva, Chefvolkswirtin bei G+ Economics, der Börsen-Zeitung. „Das Scheitern der Diplomatie, einen Krieg in der Ukraine zu verhindern, deutet auf einen länger andauernden Konflikt zwischen Russland und dem Westen hin und lässt eine Eskalation zu einem umfassenderen Krieg der Wirtschaftssanktionen befürchten.“ Oxford Economics kalkulierte am Donnerstag, dass die jetzigen Sanktionen sowie die Folgen das globale Wachstum 2022 um 0,2 Prozentpunkte senken könnten.

Europa anfälliger als USA

„Dieser Konflikt könnte zu keinem schlechteren Zeitpunkt für die Weltwirtschaft stattfinden“, sagte Komileva: „Ein Klima der Instabilität in der europäischen Energiesicherheit be­droht das Vertrauen der Unternehmen und wird den Verbrauchern durch die bereits hohen und noch länger anhaltenden Energiekosten weiter schaden.Weltweit haben Unterbrechungen der Lieferketten die gemeinsamen Errungenschaften der Globalisierung ausgehöhlt, und die höhere Inflation hat die Fähigkeit der Zentralbanken, auf Markt- und Wirtschaftsrisiken zu reagieren, untergraben. Steigende Zinsen wiederum schränken auch die Fähigkeit der Regierungen ein, auf Wachstumsschocks zu reagieren.“

Europa und die Eurozone gelten dabei als deutlich anfälliger als etwa die USA: „Die USA sind in einer besseren Position als Europa – nicht nur aufgrund der geografischen Lage, sondern auch als Energieproduzent.“ Zwar leide auch der US-Konsument unter einem hohen Ölpreis. Die Shale-gas und die Tight-oil-Industrie in den USA würden aber sehr profitieren. „Das wird sich im Wirtschaftswachstum gegenüber Europa zeigen“, so Keller. Das IW schätzt, dass bei einem weiteren Anstieg des Gaspreises um 50% das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im nächsten Jahr 1,4% geringer ausfallen könnte.

„Mit Blick auf die wirtschaftliche La­ge in der EU kommt es vor allem darauf an, ob Russland mit einem Ein­stellen der Gaslieferungen rea­giert“, sagte auch Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, der Börsen-Zeitung. „Das ist nicht ausgeschlossen, auch wenn Russland im Kalten Krieg immer vertragsgemäß geliefert hat. Da die EU fast die Hälfte ihrer Gasimporte aus Russland bezieht, würde ein Stopp der russischen Lieferungen die Wirtschaft im Euroraum empfindlich treffen.“

Der Wirtschaftsweise Wieland kritisiert, dass sich Deutschland derart abhängig gemacht habe von Russland. „Es ist mir unverständlich, dass nicht schon viel früher dafür gesorgt wurde, dass die Erdgasspeicher in Deutschland gefüllt sind und Terminals für die Anlieferung von Flüssiggas in Deutschland gebaut wurden. Umso mehr gilt es jetzt entsprechende Schritte zu unternehmen und eigene Erdgasquellen, soweit vorhanden, zu nutzen“, sagte Wieland der Börsen-Zeitung.

Weniger Wachstum, mehr Inflation – angesichts solcher Aussichten nehmen auch Sorgen vor einer Stagflation wieder zu. Barclays-Chefvolkswirt Keller spricht von einem „klaren ‚stagflationären Impuls‘“. Und auch Ökonomin Komileva sagt: „Ein neuer Angebotsschock aus Russland und der Ukraine wird die stagflationären Kräfte – höhere internationale Kosten und Wachstumshemmnisse – noch verstärken und droht, den Konjunkturzyklus schneller altern zu lassen.“