„Weiterentwickeln statt Umschulen“
Im Interview: Enzo Weber
„Weiterentwickeln statt Umschulen“
Arbeitsmarktexperte hält Plädoyer für lebenslanges Lernen im Beruf und eine neue Jobmarktpolitik
Der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber erklärt im Interview der Börsen-Zeitung die derzeit zu beobachtende Diskrepanz zwischen Fachkräftemangel und steigender Arbeitslosigkeit. Zudem beleuchtet er das Potenzial von späterem Renteneintritt, Migration und dem Einsatz von KI.
Herr Weber, einerseits stöhnen die Unternehmen über Fachkräftemangel, andererseits häufen sich die Meldungen, dass große Konzerne massenweise Stellen abbauen wollen. Wie passt das zusammen?
Wir sind im Moment tatsächlich in einer Situation, in der es beides gibt, also Knappheit und steigende Arbeitslosigkeit. Das erscheint erst mal widersinnig, hat aber klare Gründe. Bis vor drei Jahren war die Knappheit enorm – im Grunde die höchste seit Wirtschaftswunderzeiten mit 2 Millionen offenen Stellen. Im Wirtschaftsabschwung hat sich das Blatt ein bisschen gewendet, von der Situation der Rekordknappheit ist aber noch viel übrig. Und gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit, weil bestimmte Branchen in der Krise sind. Allen voran die Industrie, in der mehr als 10.000 Jobs jeden Monat verloren gehen. Andere Branchen bauen dagegen immer noch kräftig auf, etwa Gesundheit, Pflege, Erziehung, Verkehrswesen oder auch Bereiche innerhalb der Industrie wie die Rüstung. Zudem verlieren wir aus demografischen Gründen über 15 Jahre hinweg 7 Millionen Arbeitskräfte. Das zusammen führt zu der Situation, dass in Berufen, in denen eigentlich Arbeitskräfte knapp sind, durchaus auch die Arbeitslosigkeit steigt.
Wie hilfreich sind hier Umschulungen?
Eine Weiterentwicklungsstrategie ist in einer solchen Situation genau das Richtige. Im Moment ist unsere Schwäche, dass wir in der Industrie nicht genug erneuern. Durch Windkraft-, Wasserstoff- und Speichertechnik oder die Kreislaufwirtschaft können neue technische, industrielle Potenziale entstehen. Wir sollten also Menschen, die jetzt in den schrumpfenden Bereichen arbeiten, befähigen, sich weiterzuentwickeln. Das heißt übrigens nicht komplett umschulen, denn all die Maschinenbauer, Elektroniker und Energietechniker usw., die brauchen wir auch für die Transformation. Das sind eigentlich die gleichen technischen Grundkompetenzen, die da benötigt werden.
Prof. Dr. Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg und IZA Research Fellow. Neben Arbeitsmarktentwicklung und Konjunktur gehören der technologische Wandel und die wirtschaftliche Transformation zu seinen Themen, ebenso wie Arbeitsmarktreformen und -politik, Wirtschaftskrisen, demographischer Wandel und soziale Sicherung.
Man muss also auf andere Anwendungen gehen?
Genau. Da stehen aber Hürden im Weg und deswegen klappt es im Moment noch nicht so richtig. Wenn ich etwa in der Automobilbranche arbeite, weiß ich gar nicht unbedingt, wo meine Fähigkeiten sonst noch gebraucht werden. Man braucht eine gute Beratung, eine gute Vermittlung, eine gezielte Qualifizierung. In den Grundkompetenzen gibt es keine Lücken, man muss sich aber weiterentwickeln, was die Anwendung angeht.
Viele fürchten dann aber eine Lohnlücke.
Ja, teils gibt es vorübergehend eine Lohnlücke. Aber im Moment werden die Leute mit Abfindung in die Frührente geschoben. Da wäre es besser, wenn mit einem Teil der Abfindung diese Maßnahme und das Entgelt im neuen Job unterstützt würden. Bis sich diese Jobs und auch die Menschen in den Jobs so weit entwickelt haben, dass wir da auch wieder auf einem hohen Stand sind. Das wäre eine gute Politikmaßnahme. Ich nenne das immer kurz „Weiterentwickeln statt Umschulen“.
Nicht nur potenzielle Investoren brauchen eine klare Orientierung, sondern auch Menschen, die sozusagen in ihr Berufsleben investieren wollen.
Wir brauchen also mehr Netzwerke?
In dieser Transformationsphase brauchen wir eine neue Art von Arbeitsmarktpolitik, die in Netzwerken mit den beteiligten Firmen diese Weiterentwicklung in die Hand nimmt. Klassische Arbeitsmarktpolitik ist für Arbeitslose zuständig. Hier geht es um Beschäftigte, die vermittelt werden müssen. Mittlerweile gibt es regional das Konzept der Arbeitsmarktdrehscheibe mit einigen schon positiven Leuchtturmprojekten. Das reicht aber nicht. Die Politik muss den Faktor Arbeit effektiv und richtungsweisend in die aufstrebenden Bereiche bekommen. Dafür braucht man auch eine klare wirtschaftspolitische Linie, welche Felder in der Transformation zukunftsweisend sind, etwa bei E-Mobilität oder Windkraft. Und kein Durcheinander wie bei der Heizungstechnik. Nicht nur potenzielle Investoren brauchen eine klare Orientierung, sondern auch Menschen, die sozusagen in ihr Berufsleben investieren wollen.
Wir müssen aus der Migration mehr machen.
Ein Lösungsansatz im Kampf gegen den Fachkräftemangel ist die Migration. Wie sähe eine gezielte Fachkräfteeinwanderungsstrategie aus?
Wir müssen aus der Migration mehr machen. Wir haben durchaus über viele Jahre Zuwanderung angezogen. Zugewanderte reizen aber oft ihre Potenziale nicht aus. Sie arbeiten unter ihrem Niveau – wegen Sprachschwierigkeiten oder nicht anerkannten Qualifikationen. Wir bräuchten eine proaktive Strategie, mit der die mitgebrachten Kompetenzen anerkannt werden, kombiniert mit einer berufsbegleitenden Qualifizierungsstrategie mit Sprachförderung, an deren Ende auch der deutsche Abschluss steht. Denn wenn Menschen beruflich nicht die Perspektive sehen, die sie sich erhofft haben, sind sie im Zweifel auch wieder weg. Deutschland hat eine ziemlich hohe Abwanderungsquote.
Klingt, als sollten wir noch früher ansetzen…
Wir sollten einfach unsere eigentliche Stärke viel mehr ausspielen: Wir haben so eine tolle Ausbildung, wir haben Universitäten, an denen man gratis studieren kann und einen international anerkannten Abschluss bekommt. Wir sollten die Menschen aus dem Ausland direkt in die Universitäten und in die Ausbildung holen. Denn dann erwerben sie direkt den deutschen Abschluss, können sich während der Zeit integrieren und die Sprache lernen. Für einen systematischen Zuwanderungskanal müsste auch besser beraten werden über Aufenthaltsrecht oder den Arbeitsmarktzugang und Firmenkontakte organisiert werden. Im internationalen Vergleich haben wir eine gute Quote an Studierenden, die dann bleiben, aber es geht noch deutlich mehr.
Frauen sollten mehr Voll- statt Teilzeit arbeiten, heißt es immer wieder. Dem stehen aber oft mangelnde Betreuungsmöglichkeiten entgegen. Was könnte man erreichen, wenn sich dieses Dilemma lösen ließe?
Viel könnte man da erreichen. Das Hauptpotenzial liegt eigentlich gar nicht unbedingt darin, dass Frauen noch ein paar Stunden mehr arbeiten. Das Problem ist das Zuverdienermodell. Frauen starten gleichauf mit Männern in den Arbeitsmarkt und in den Dreißigern knickt die berufliche Entwicklung von Frauen mit der Mutterschaft ab und erholt sich auch nicht mehr richtig. Das liegt aber nicht daran, dass alle Hausfrauen werden – das Modell gibt es kaum noch. Sie geraten im Job auf das Abstellgleis, die Entwicklung fehlt. Das liegt an einigen Faktoren, etwa an unzureichenden Betreuungsmöglichkeiten. Flexible Arbeitszeitmodelle könnten etwas bringen, und bessere finanzielle Anreize.
Ungenutztes Potenzial wird auch bei älteren Menschen gesehen. Inwieweit würde ein späterer Rentenbeginn dem Arbeitsmarkt helfen?
Ältere Menschen in körperlich anspruchsvollen Jobs schaffen schon heute das Renteneintrittsalter nicht. Sie sollten, statt vorzeitig in die Rente zu gehen, rechtzeitig für verwandte Tätigkeiten fit gemacht werden. Eine Qualifizierungswelle 50plus sozusagen, die noch berufliche Perspektiven für die folgenden Jahre bietet. Dazu bräuchte es eine Art Berufsberatung, die auf individuelle Fähigkeiten und Möglichkeiten abstellt. Aber warum überhaupt eine Altersgrenze setzen und diese in den Arbeitsverträgen fixieren? Warum nicht sagen: Dieses Arbeitsverhältnis kann bei Erreichen der Regelaltersgrenze enden. Das würde dazu führen, dass man nicht automatisch immer Schluss macht, sondern sich beide Seiten zusammensetzen und überlegen, wie es weitergehen soll. Das würde den Standard umkehren.
Investitionen in das Schulsystem sind der stärkste Hebel.
Selbst den benötigten Nachwuchs auszubilden gilt als weitere Möglichkeit. Firmen beklagen aber oftmals mangelnde Ausbildungsreife...
Investitionen in das Schulsystem sind der stärkste Hebel. Mittlerweile steigen die Zahlen der Schulabbrecher wieder, das ist bedenklich. In einem bestimmten Umfang wird es aber immer junge Menschen geben, die auch mit Defiziten aus dem Schulsystem in die Berufswelt kommen. Das heißt, wir brauchen auch niederschwellige Angebote in der Berufsausbildung, etwa mit einer schrittweisen individuellen Ausbildung parallel zum Beruf. Für jemand mit negativen Erfahrungen in der Schule oder mangelnder Unterstützung vom Elternhaus. Denn das ist der typische Weg in Helferjobs, in denen schnell zumindest der Mindestlohn verdient wird, in denen man aber oft gefangen bleibt. Dementsprechend steigen auch seit längerem die Anteile von jungen Erwerbspersonen, die keine Berufsausbildung haben. Derzeit sind es 13% und es werden im Schnitt 2,5% mehr pro Jahr.
Der Einsatz von KI gilt den einen als Job-Killer, den anderen als Job-Motor. Welchem Ansatz neigen Sie zu?
Weder noch. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Betriebswirtschaftlich hat es natürlich nur Sinn, diese Technologie einzusetzen, wenn sie Tätigkeiten übernimmt, die jetzt Menschen ausüben. Das erzeugt Druck und Risiken. Die eigentliche Chance ist aber die Weiterentwicklung von Menschen, also unserer Tätigkeiten und Kompetenzen. Und da ist viel möglich, seit den 90ern hat zum Beispiel der Anteil von Jobs mit komplexen Tätigkeiten um mehr als 10% je Dekade zugenommen. In Bezug auf die KI werden Dinge stärker gefragt wie Lernfähigkeit, Abstraktionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit oder inhaltliche Flexibilität. Daraus kann man tolle Jobs machen! Wenn ich mir Fragen stelle wie: Mache ich im Moment in meinem Job wirklich das, wofür ich den Beruf mal ergriffen habe? Ist meine derzeitige Tätigkeit wirklich mein Optimum, das unbedingt so bleiben muss? Oder wäre es nicht viel besser, wenn ich bestimmte Tätigkeiten loswerden könnte und mich stärker auf das konzentrieren könnte, was ich eigentlich machen will? Dann bin ich auf dem Weg der Weiterentwicklung und das ist der richtige Weg.
Das Interview führte Alexandra Baude.
Das Interview führte Alexandra Baude.