Standortdebatte

Wieder kranker Mann Europas?

Die deutsche Wirtschaft könnte wie schon vor zwei Jahrzehnten erneut zum „kranken Mann Europas“ werden, wenn nicht zügig Investitionsbedingungen verbessert und die Wirtschaft an ihren eingefahrenen Strukturen festhält. Was tun?

Wieder kranker Mann Europas?

Jahrelang wurden Exporte nach China forciert und Energieverbindungen zu Russland ausgebaut. Daraus ergibt sich nun ein hässliche Mischung von Risiken für den Standort Deutschland – als Exportnation und als Wohlstandsmaschine für die Bürger. Die starke Abhängigkeit von der verarbeitenden Industrie macht Deutschland nämlich anfälliger für Unterbrechungen russischer Energielieferungen und Engpässen im Handel als viele andere europäische Länder. Dies schürt sowohl das Rezessionsrisiko als auch die Gefahr einer noch höheren Inflation, welche den ohnehin schon verunsicherter Verbrauchern über Kaufkraftverluste weiter zusetzen würden.

Das Nachsehen bei Investitionen

Hinzu kommt, dass das Land im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen in Europa nicht die erste Geige spielt, wenn es darauf ankommt, Investoren für eine Ansiedlung von Unternehmen zu gewinnen. Der Eindruck mag im Moment noch ein anderer sein, da der E-Auto-Hersteller Tesla sich mit einem Produktionswerk in Brandenburg niedergelassen hat; und auch die staatlich subventionierten Ansiedlungen für die Chiptechnologie oder Solartechnologie scheinen Deutschland eher attraktiv erscheinen zu lassen. Aber einer neuen Studie zufolge droht Deutschland diesbezüglich den Anschluss an die beiden europäischen Spitzenreiter Frankreich und Großbritannien zu verlieren. Wie das Prüfungs- und Beratungsunternehmens EY (Ernst & Young) darlegt, haben ausländische Investoren im vergangenen Jahr 841 Projekte in Deutschland angekündigt – ein Minus von 10%. Der europäische Primus Frankreich verbuchte hingegen 1.222 Vorhaben – ein Plus von 24%. Das Nicht-EU-Land Großbritannien kam auf 993 Investitionsprojekte – ein Zuwachs um 2%. „Im innereuropäischen Standortwettbewerb scheint Deutschland derzeit das Nachsehen zu haben”, fasste Henrik Ahlers, Vorsitzender der EY-Geschäftsführung, die Ergebnisse zusammen. Deutschland sei ohne Zweifel ein sehr starker und wettbewerbsfähiger Standort”, dem Land würde aber nachgesagt, langwierige Verwaltungs- und Genehmigungsprozesse sowie vergleichsweise hohe Energiekosten zu haben. Auch der Fachkräftemangel spiele eine Rolle. Das schrecke potenzielle Investoren ab.

„Katastrophale wirtschaftliche Lage“

„Deutschland befindet sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage”, sagte Aline Schuiling, Senior Economist bei ABN Amro. „Die Sorgen über die Aussichten sind durchaus berechtigt.” Schuiling erwartet, dass die Wirtschaftskraft Deutschlands im zweiten Quartal schrumpfen wird. Während Ökonomen der Bank of America Merrill Lynch und der Banco Santander ihre Meinung teilen, geht der Bloomberg-Konsens weiterhin von 0,4% Wachstum aus.

Die Europäische Kommission erwartet, dass einzig Estland in diesem Jahr noch langsamer als Deutschland wachsen wird aufgrund ähnlicher Gründe, aber einer noch größeren Nähe zu Russland, während die Inflation in beiden Ländern voraussichtlich stärker sein dürfte als im Durchschnitt der 19 Länder der Eurozone.

Die Belastung zeigt sich im Rückgrat der deutschen Wirtschaft: 77% der Hersteller beklagen, dass Engpässe bei Material und Gerät ihre Geschäfte beeinträchtigen – mehr als irgendwo sonst in Europa. Der Verband der Maschinenbauer hat seine Prognose für das Produktionswachstum jüngst von 4% auf nur noch 1% gesenkt.  

Auslandstourismus statt teure Lebensmittel

Zusätzlich zu den Kopfschmerzen in der Industrie werden viele Deutsche diesen Sommer wahrscheinlich Geld ins Ausland tragen: Der Wunsch nach Sonne und Mittelmeer wird nach zwei Jahren Pandemie für viele wieder wahr. Die Einzelhändler daheim spüren den Druck bereits – die Umsätze im April sind so stark gesunken wie seit einem Jahr nicht mehr.

Geopolitische Risiken ignoriert

Die Probleme rühren daher, dass Deutschland geopolitische Risiken ignoriert hat, um seine verarbeitende Industrie zu stärken, was – zusammen mit weitreichenden Arbeitsreformen – dazu beigetragen hat, das Land Anfang der 2000er Jahre aus der Krise zu führen. Sowohl die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch ihr Vorgänger Gerhard Schröder verstärkten die Abhängigkeit des Landes von billiger Energie aus Russland und ermutigten Unternehmen, Geschäfte in China zu tätigen. „Das hat Deutschland zur leistungsstärksten Volkswirtschaft in Europa gemacht, aber jetzt ist ein hoher Preis zu zahlen”, sagte der Milliardär Georg Soros letzte Woche auf dem Weltwirtschaftsforum. 

Bundeskanzler Olaf Scholz schien die Bedenken anzuerkennen und sagte, dass „einige Leute in der Vergangenheit etwas unvorsichtig waren”. Deutschland müsse nun dringend seine Lieferketten und Exportmärkte diversifizieren, sagte er in Davos. „Viele Unternehmen müssen sich dem stellen”, so Scholz. “Sie haben oft gegen das verstoßen, was sie zu Beginn ihres Studiums gelernt haben: nicht alles auf eine Karte setzen.”

Indien statt China, Katar statt Russland

Die erste Asienreise seit seinem Amtsantritt führte Scholz nach Japan, außerdem empfing er den indischen Premierminister Narendra Modi in Berlin. China hat er noch nicht besucht, dafür aber die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in dem Land verschärft. Seine Regierung hat auch Gespräche mit Katar geführt in dem Bemühen, russisches Gas zu ersetzen.

Trotz der trüben Aussichten gibt es Hoffnung. Die Lockerung der pandemischen Abriegelungen in Peking und Schanghai könnte die Nachfrage nach deutschen Waren ankurbeln und einige Engpässe in den Lieferkette beseitigen. Automobilhersteller, darunter die Daimler Truck Holding AG, der weltgrößte Hersteller von Nutzfahrzeugen, erwarten, dass die immer noch andauernde Knappheit bei Mikrochips in diesem Quartal ein geringeres Problem darstellen und sich in der zweiten Jahreshälfte deutlich verbessern wird.

Nach Ansicht von Bundesbankpräsident Joachim Nagel hält sich die deutsche Wirtschaft gut, und das Bruttoinlandsprodukt könnte in diesem Jahr doch noch um 2% steigen. Die Verbraucherseite wird sich aufgrund der steigenden Inflation aber womöglich als weniger widerstandsfähig erweisen. Laut einer Studie der Allianz SE müssen die Haushalte in diesem Jahr mit zusätzlichen Ausgaben für Lebensmittel in Höhe von mehr als 250 Euro pro Person rechnen.

Kaufkraftverlust bremst Wachstum

Da die Lebenshaltungskosten steigen, bleibt weniger für diskretionäre Ausgaben übrig. Das Umsatzwachstum des Online-Bekleidungshändlers Zalando SE wird voraussichtlich bis zur zweiten Jahreshälfte stagnieren, so die Prognose von Bloomberg Intelligence.

Ein großer Teil des verbleibenden Geldes wird im Sommer wahrscheinlich in Ländern wie Spanien, Italien und Griechenland ausgegeben. Auf inländische Ziele entfielen 2021 nur gut ein Drittel aller Reisen der Deutschen, die länger als fünf Tage dauerten. Das könnte sich allerdings durch das Neun-Euro-Ticket ändern.

Am Mittwoch sagte Scholz, die Bundesregierung gehe den „ungewöhnlichen Schritt”, Gespräche mit Arbeitgebern und Gewerkschaften außerhalb der regulären Tarifverhandlungen zu suchen, um die Inflation zu bekämpfen. „Wir wollen eine konzertierte Aktion gegen den Preisdruck”, sagte er im Bundestag.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.