Klaas Knot, De Nederlandsche Bank

„Wir dürfen auf keinen Fall hinter die Kurve fallen“

EZB-Ratsmitglied Klaas Knot warnt im Interview der Börsen-Zeitung eindringlich davor, die Inflationsgefahren in Euroland zu unterschätzen – und vor einem zu späten Gegensteuern der EZB. Zugleich sorgt er sich bei einer Zinswende um die Finanzstabilität.

„Wir dürfen auf keinen Fall hinter die Kurve fallen“

Mark Schrörs.

Herr Knot, sind Sie für das Jahr 2022 eher optimistisch oder pessimistisch?

Es ist schwer, das in ein Wort zu fassen – optimistisch oder pessimistisch. Klar ist, dass auch der Beginn des Jahres 2022 von der Pandemie und einer erhöhten Unsicherheit geprägt sein wird. Ich bin be­sorgt, was die gesundheitliche Situation an­belangt. Aber unsere Volkswirtschaften ha­ben gelernt, mit jedem neuen Covid-Schock besser umzugehen. Der wirtschaftliche Schaden war bei jeder neuen Welle weniger schwerwiegend als bei der vorherigen. Die Delta-Variante hat nicht einmal mehr zu einer Rezession geführt.

Also wird auch die neue Variante Omikron den Aufschwung nicht beenden?

Omikron mag die wirtschaftliche Erholung verlangsamen und verzögern, wird sie aber nicht beenden. Und für uns als EZB ist noch wichtiger, was Omikron für die Inflation bedeutet. Die Wahrscheinlichkeit, dass Omikron die Inflation erhöht, ist mindestens so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Variante die Inflation senkt. Unsere geldpolitische Reaktion wird also ganz anders sein müssen als bei der ersten Welle im März 2020.

Auch die neuen Entwicklungen seit der Zinssitzung Mitte Dezember haben nichts daran geändert, dass die EZB zuversichtlich für die Konjunktur ist? Deutschland hat neue Restriktionen beschlossen, in den Niederlanden gibt es einen Lockdown.

Omikron spiegelt sich noch nicht in den Projektionen der EZB-Volkswirte wider. Wir haben aber bereits bei der Sitzung über mögliche Abwärtsrisiken für die wirtschaftliche Aktivität durch Omikron diskutiert. Die Informationen seitdem haben das bestätigt. Omikron wird das Wachstum mindestens im ersten Quartal dämpfen. Aber in früheren Phasen der Pandemie sind Rückgänge des Bruttoinlandsprodukts im Folgequartal rasch ausgeglichen worden. Die Menschen ge­ben auch weiter Geld aus, wenn auch we­niger für Dienstleistungen und mehr für Waren und Wohnen. Das sollte die Auswirkungen auf das Wachstum in Grenzen halten.

Und was macht Omikron nun mit der Inflation? Sie haben gegenläufige Trends angesprochen. Was wird da dominieren?

Die Inflation kann aufgrund von Omikron in beide Richtungen gehen. Weitere Angebotsengpässe würden inflationär wirken. Ein vorübergehender Rückgang der Gesamtnachfrage würde zunächst einen Abwärtsdruck auf die Inflation ausüben. Wir müssen das beobachten und wachsam bleiben. In jedem Fall ist die Situation grundlegend anders als im März 2020, als klar war, dass starke Nachfrageeffekte den Angebotseffekten vorausgehen würden. So ist es auch gekommen, aber die Intensität der Inflation hat uns zweifellos überrascht.

Die US-Notenbank Fed hat sich jetzt da­von verabschiedet, die hohe Inflation als „vorübergehend“ zu bezeichnen. Die EZB hält im Grunde aber daran fest. Was macht Sie da so zuversichtlich?

Begriffe wie „vorübergehend“ oder „temporär“ sind bedeutungslos, solange man keinen Zeitrahmen angibt. Ein Marktteilnehmer hat unlängst gescherzt, dass sich am Ende des Tages auch die Dinosaurier als vorübergehend herausgestellt hätten – auch wenn sie einige Jahrhunderte überdauerten. Wenn man sich nun aber die Zusammensetzung der Inflation anschaut, sind wir zuversichtlich, dass die Inflation im Jahr 2022 zurückgeht.

Warum?

Bei einigen Faktoren ist es sicher, dass sie nach zwölf Monaten aus der Statistik herausfallen werden. Dies gilt zum Beispiel für die deutsche Mehrwertsteuer oder vergangene Energiepreiserhöhungen. Darüber hinaus wird ein weiterer großer Teil der aktuellen Inflation durch Engpässe bei den internationalen Lieferungen verursacht, die ebenfalls von Natur aus vorübergehend sind – auch wenn unklar ist, wie lange dies andauern wird. Allerdings gehen die Meinungen auseinander, ob wir am Ende eine Inflationsrate von unter 2% haben werden, wie die Prognosen der EZB-Mitarbeiter vermuten lassen. Es bedarf nur eines etwas weniger ausgeprägten Rückgangs, damit wir über 2% bleiben.

Und was denken Sie?

Ich gehöre zu jenen, die nicht ganz überzeugt sind, dass die Inflation wieder unter 2% fällt. In diesem Sinne war die Dezember-Sitzung für mich ein Wendepunkt. Es wa­ren die ersten Projektionen, auf deren Grundlage wir nicht mehr mit Sicherheit sa­gen konnten, dass die mittelfristige In­flation tatsächlich unter 2 % fallen wird. Mittelfristige Inflationsprognosen waren nicht immer sehr genau. Vor allem in Zeiten struktureller Veränderungen sind Modelle von begrenztem Nutzen.

Einige Notenbanker argumentieren, dass der EZB-Job erledigt sei. Die EZB-Projektionen sähen die Inflation in den Jahren 2023 und 2024 bei 1,8% und dabei seien selbst genutztes Wohneigentum oder die Mindestlohnerhöhungen noch nicht eingearbeitet. Ist es Zeit für „Mission erfüllt“?

Ich halte mich mit einer solchen absoluten Aussage noch zurück, bis ich sehe, wie sich die Inflation im Jahr 2022 entwickelt. Aber selbst dann kann man mit Sicherheit sagen, dass wir sehr, sehr nahe an „Mission erfüllt“ sind. Die Inflationsrisiken sind eindeutig nach oben gerichtet, und ich glaube, dass unsere Forward Guidance uns nicht mehr daran hindern muss, die Zinsen zu erhöhen, wenn wir das wollten.

Aber sind vor dem Hintergrund die jüngsten Beschlüsse des EZB-Rats noch angemessen? Diese schreiben Anleihekäufe auf weitere Jahre hinaus fest.

Wir haben acht Jahre lang eine Art Regentanz für mehr Inflation aufgeführt. Jetzt ha­ben wir plötzlich mehr Inflation. Aber die Unsicherheit bleibt groß. Deshalb bin ich ein wenig vorsichtig, den Sieg zu verkünden. Die Unsicherheit ist zu groß, um jetzt Hals über Kopf zu reagieren. Ungewissheit erfordert einen graduellen Ansatz. Deshalb habe ich die Entscheidungen Mitte Dezember unterstützt. Ich fühle mich wohl mit einem Szenario, bei dem wir das Jahr 2022 nutzen, um die Anleihekäufe schrittweise zurückzufahren. Wir werden die Käufe von 80 Mrd. Euro pro Monat auf 20 Mrd. Euro ab Oktober 2022 reduzieren. Der Betrag von 20 Mrd. Euro eröffnet uns die Möglichkeit, die Nettokäufe jederzeit in einem Schritt zu beenden. Damit hätten wir im Jahr 2023 völlig freie Hand. Sollte die Inflation jedoch auch im Jahr 2022 weiter überraschend hoch ausfallen, können wir die Anleihekäufe früher beenden und die Markterwartungen für die erste Zinserhöhung weiter nach vorne verschieben.

Aber Sie halten an der Abfolge fest – erst Ende der Käufe, dann Zinsschritte? Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann hat dieses „Sequencing“ hinterfragt.

Meines Erachtens sind die negativen Nebenwirkungen bei anhaltenden Anleihekäufen größer. Ihre Auswirkungen auf den Zugang zum Wohnungsmarkt, die Altersvorsorge und die Vermögensungleichheit können auch den sozialen Zusammenhalt untergraben, was ich zunehmend besorgniserregend finde. Diese Faktoren sollten auch in unsere erweiterte Verhältnismäßigkeitsprüfung ein­fließen, was bedeutet, dass sie zuerst beendet werden sollten. Außerdem sollten wir die Neigung der Zinskurve nicht übermäßig abflachen. Die Fristentransformation ist eine wesentliche Finanzdienstleistung, die ei­ne angemessene Rendite rechtfertigt. Es gibt also gute Argumente für die derzeitige Abfolge.

Sehr umstritten im Rat war auch die große Flexibilität, die sich der Rat lässt – „wann immer das Erreichen von Preisstabilität durch Gefahren für die geldpolitische Transmission bedroht ist“, wie es in der Erklärung heißt. Ist dieses „Wann-im­mer“ das neue „Was-immer“, also eine Neuauflage des „Whatever“-Versprechens von Ex-EZB-Chef Mario Draghi?

Solche Analogien sind zu simpel. Die Flexibilität beim Kauf von Vermögenswerten hat uns während der Pandemie sehr gute Dienste geleistet. Flexibilität ist unser wichtigstes Instrument, um einer Fragmentierung entgegenzuwirken. Und für mich ist die Vermeidung einer Fragmentierung eine notwendige Voraussetzung für die Normalisierung der Geldpolitik. Die Vorbereitung auf eine schrittweise geldpolitische Normalisierung ist jetzt angebracht. Sie wird jedoch nicht gelingen, wenn sie von wiederholten Turbulenzen auf den Anleihemärkten begleitet wird.

Kritiker sagen, das laufe hinaus auf eine Kontrolle der Renditekurve oder sogar eine Art Solvenzgarantie für die Staaten.

Das ist übertrieben. Wir haben eine Steuerung der Renditekurve ausgeschlossen. Wir nehmen jetzt den Fuß vom Gaspedal und für mich ist völlig klar, dass das allgemeine Niveau der Anleiherenditen im Euroraum allmählich steigen wird. Das ist angesichts der Inflationsentwicklung auch wünschenswert. Aber wir müssen eine übermäßige Ausweitung der Zinsdifferenzen vermeiden, die sich unterschiedlich auf die verschiedenen Teile des Euroraums auswirken würde.

Sind die Euro-Staaten auf einen solchen Anstieg der Zinsen vorbereitet? Vor allem bei Italien gibt es da große Bedenken.

Die Regierungen müssen sich der neuen Realität anpassen. Und solange die Zinskosten graduell anziehen, sollten sie auch in der Lage sein, sich darauf einzustellen.

Ist es angesichts der großen Unsicherheit wirklich möglich und angemessen, eine Leitzinserhöhung 2022 auszuschließen?

Wir haben bislang eine Zinserhöhung auf Basis des aktuellen Ausblicks ausgeschlossen. Wenn neue Daten etwas an dem Ausblick ändern, können wir jederzeit reagieren. Wir treffen uns alle sechs Wochen, und alle sechs Wochen können wir unsere Sprache anpassen, was sich unmittelbar auf die Markterwartungen für den Lift-off auswirken würde. In meinem Basisszenario ist das Jahr 2022 noch ausgeschlossen, nicht aber 2023.

EZB-Chefbankenaufseher Andrea Enria hat jetzt gesagt, dass nun die Kosten des EZB-Negativzinses für die Banken den Nutzen überwiegen. Wie sehen Sie das?

Es ist klar, dass die Wirksamkeit solcher Instrumente mit der Zeit abnimmt, da die Ausgaben weniger reaktionsfreudig werden, während die negativen Nebenwirkungen zu­nehmen. Es ist schwer zu sagen, wann genau das kippen wird. Wie bereits dargelegt, kann die zersetzende Wirkung einer langen Periode beispielloser monetärer Akkomodierung nicht ignoriert werden. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass uns die Inflationsaussichten einen Ausstieg aus dieser beispiellosen Po­litik ermöglichen werden. Aber dies wird nur schrittweise geschehen. Es handelt sich um eine Evolution, nicht um eine Revolution.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass die EZB ähnlich wie jetzt die Fed oder die Bank of England künftig zu einer schärferen Kehrtwende gezwungen sein wird?

Wenn sich Aufwärtsrisiken für die Inflation materialisieren, könnte das eine schnellere Umkehr erfordern. Wenn wir einen allmählichen und reibungslosen Ausstieg anstreben, ist es daher umso wichtiger, dass wir frühzeitig damit beginnen. Das Letzte, was man in einer solchen Situation will, ist, hinter die Kurve zu fallen. Wenn man einmal hinter die Kurve gefallen ist, bedarf es einer abrupten, schockartigen Korrektur, um wieder vor die Kurve zu kommen. Wir dürfen auf keinen Fall hinter die Kurve fallen.

In Deutschland nimmt die Kritik an der EZB wieder zu. Wie gefährlich ist das?

Als EZB sind wir dazu da, die Kaufkraft der Bürger zu schützen. Deshalb ist jede Inflation, die unser 2-Prozent-Ziel deutlich überschreitet, nicht willkommen – egal woher sie kommt. Tatsache ist aber auch, dass sich rund 80% der derzeit hohen Inflation unserer Kontrolle entziehen. Wir haben keine Öl- oder Gasfelder, um die Energiepreise zu drücken. Wir haben keine Schiffe oder Container, um die Frachtkosten zu senken. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich die hohe Inflation nicht durch Zweitrundeneffekte verfestigt. Und wir werden tun, was nötig ist, um das zu verhindern. Daran sollte es nicht den geringsten Zweifel geben.

Deswegen auch der neue Hinweis in der Erklärung des EZB-Rats, die Instrumente notfalls „in jede Richtung“ anzupassen?

Wir stehen bereit, unsere Instrumente in jede Richtung anzupassen. Und die Risiken für die Inflation sind klar aufwärts gerichtet. Die Kombination dieser beiden Beobachtungen legt nahe, dass eine künftige Straffung wahrscheinlicher ist als eine erneute Lockerung.

Wird der Wechsel an der Bundesbankspitze die Diskussion im EZB-Rat verändern?

Ich habe immer sehr gerne und sehr konstruktiv mit Jens Weidmann zusammengearbeitet. Ich bedauere seinen Rücktritt. Aber ich kenne auch Joachim Nagel ein wenig und freue mich sehr auf die Zusammenarbeit. Wir alle haben eine gemeinsame Mission, ein gemeinsames Mandat – Preisstabilität. Das bindet und verbindet uns.

Würde der EZB mehr gemeinsame Fiskalpolitik auf Euro-Ebene helfen? Es gibt eine Diskussion, den EU-Wiederaufbaufonds zum Dauerinstrument zu machen.

Das Wichtigste ist jetzt erst einmal, den EU-Fonds­ zu einem Erfolg zu machen. Dafür ist der Reformteil mindestens so wichtig wie das Geld für Investitionen. Wenn der EU-Fonds­ ein Erfolg wird, setzt er einen Präzedenzfall für künftige Krisen. Es braucht aber grundsätzlich mehr Fokus auf die Euro-weite fiskalpolitische Ausrichtung. Das kann über mehr Koordination der nationalen Fiskalpolitik gelingen oder mit einer Euro-Fiskalkapazität. Aber so weit sind wir noch nicht.

Seit Anfang Dezember sind Sie auch Vorsitzender des weltweiten Finanzstabilitätsrats FSB. Was ist da Ihre Priorität?

Auch hier wird die Normalisierung der Geldpolitik einige wichtige Herausforderungen mit sich bringen. Lange niedrige Zinsen ha­ben eine Suche nach Rendite ausgelöst, und wenn die aktuellen Bewertungen von Vermögenswerten eine erwartete Fortsetzung des günstigen Zinsumfelds widerspiegeln, sind sie anfällig für eine Korrektur, sobald sich die Erwartungen ändern. Sollten die Zentralbanken aufgrund der anhaltend hohen Inflation gezwungen sein, die Leitzinsen schneller als erwartet anzuheben, müssten die Auswirkungen auf die Finanzstabilität genau beobachtet werden. Eine abrupte Zinswende ist da­her eines der größten Risiken für die Fi­nanzstabilität in den nächsten Jahren. Ein weiterer Grund, warum es so wichtig ist, dass die Geldpolitik nicht hinter die Kurve fällt.

Bundesbankvizepräsidentin Claudia Buch hat vor einer neuen Welle der Deregulierung des Finanzsystems nach Corona gewarnt. Teilen Sie diese Sorge?

Die Tatsache, dass der Bankensektor dazu beigetragen hat, den Schock während der Coronakrise abzumildern und ihn nicht noch zu verstärken, wie es während der Weltfinanzkrise der Fall war, hat viel mit der erfolgreichen regulatorischen Reformagenda zu tun, die nach der globalen Finanzkrise formuliert wurde. Das Letzte, was wir jetzt tun sollten, ist, die aufsichtsrechtlichen Standards zu lockern und die Widerstandsfähigkeit des Bankensektors zu schwächen.

Das Interview führte

BZ+
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