Im InterviewMoritz Kraemer

„Wir erleben die erste Rezession mit Vollbeschäftigung“

Nach mehrjährigen Krisen müssen jetzt Dauerthemen wie die Stabilisierung der Budgets oder der Arbeitskräftemangel wieder in den Vordergrund wirtschaftspolitischer Bestrebungen rücken. Dies fordert Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW. Er plädiert daher unter anderem für den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz.

„Wir erleben die erste Rezession mit Vollbeschäftigung“

Im Interview: Moritz Kraemer

„Erste Rezession mit Vollbeschäftigung“

Der LBBW-Chefvolkswirt fordert, die raren Arbeitskräfte in Bereichen mit hoher Wertschöpfung einzusetzen

Nach mehrjährigen Krisen müssen jetzt Dauerthemen wie die Stabilisierung der Budgets oder der Arbeitskräftemangel wieder in den Vordergrund wirtschaftspolitischer Bestrebungen rücken. Dies fordert Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW. Er plädiert daher unter anderem für den verstärkten Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Herr Kraemer, Deutschland steckt in einer Rezession. Wie geht es weiter?

Wir bewegen uns von der gleichzeitigen Existenz mehrjährigerer Krisen wieder in Richtung Normalzustand. Da läuft derzeit vieles in die richtige Richtung. Was das Wirtschaftswachstum in Deutschland angeht, glauben wir für 2023 an eine rote Null in Form einer um 0,5% schrumpfenden Konjunktur. Der Hauptgrund dafür ist der Konsum, der wegen realer Einkommensverluste als Treiber der Konjunktur ausfällt. Außerdem fallen die staatlichen Konsumstützen, die es während der Pandemie gab, weg. Damit beginnt für die öffentlichen Finanzen eine Wendezeit.

Das bedeutet?

Die staatlichen Budgets müssen wieder stabilisiert werden und Schuldenbegrenzung in den Vordergrund rücken. Hinzu kommen Themen, die wir vor der Pandemie auch schon hatten. Ich denke da an den Arbeitskräftemangel, der vielfach der demografischen Entwicklung geschuldet ist. In der Konsequenz müssen wir mit unseren Potenzialen effektiver umgehen. Dies hat zur Folge, dass wir beispielsweise die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken oder falsche Anreize wie das Ehegattensplitting abschaffen sollten. Auch die Weiterentwicklung des Homeoffice gehört dazu, das sich in der Pandemie unglaublich rasch verbreitet hat – für mich ein ermutigendes Signal für Veränderung.

Die Arbeitskräfteknappheit aber bleibt.

Ja, weshalb wir die erste Rezession bei Vollbeschäftigung erleben. Aber Not macht auch erfinderisch. Um die Produktivität zu steigern, gilt es, vermehrt künstliche Intelligenz einzusetzen und Standardprozesse im Servicebereich zu automatisieren. Was es in der Produktion schon lange gibt, muss nun auch im White-Collar-Bereich Einzug halten. Bei diesen strukturellen Problemen haben wir uns lange genug ausgeruht.

Gehört dazu auch die Migration?

Auf jeden Fall. Wir bräuchten eine Migrationsbewegung, in deren Rahmen sowohl Fachkräfte als auch Angelernte möglichst rasch in den Arbeitsmarkt integriert werden. Flüchtende sollten auch einfacheren Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Andernfalls wird es schwer, den jährlichen Rückgang unseres Arbeitskräftepotenzials von etwa 500.000 Menschen auch nur ansatzweise zu ersetzen. Wir können uns brachliegende Arbeitskraft nicht mehr leisten.

Muss also das alte Modell Deutschland neu gedacht werden?

So kann man es nennen, basierten doch die wirtschaftlichen Erfolge der Bundesrepublik insbesondere auf ihrer Exportleistung. Dazu trug neben einem eher schwachen Euro und billiger Energie der Umstand bei, dass China ins Welthandelssystem integriert wurde. Dies ermöglichte es der deutschen Wirtschaft lange Jahre, nach der komparativen Kostenmethode ihre Vorprodukte zu einem großen Teil in China günstig herstellen zu lassen.

Und damit ist es jetzt vorbei?

Im Wesentlichen ja. Denn zum einen ist China vom Kunden zum Konkurrenten avanciert, zum anderen hat in der Weltwirtschaftspolitik eine eher protektionistische Phase begonnen. Wir haben uns eben zu lange auf die Wirkung von „Made in Germany“ verlassen. Spätestens mit dem Dieselskandal aber hat die deutsche Wirtschaft ihre Unschuld verloren. Und nun investieren die Unternehmen gegen die verlorene Zeit an.

Unter anderem in die Digitalisierung.

Da sind wir noch am Anfang. Aber das Potenzial, das darin schlummert, gilt es natürlich zu heben. Da würde auch ein Stück weit Deregulierung helfen. Anders ist es bei künstlicher Intelligenz, deren Risiken wir ernst nehmen müssen – Stichwort: Deep Fakes. Hier bedarf es einer Regulierung.

Worauf kommt es an?

Die Frage ist, was die Technologien der Zukunft sind. Es wird viele Autozulieferer geben, die die Transformation hinbekommen, manche werden aus dem Markt ausscheiden. Wenn dabei energieintensive Unternehmen in die USA auswandern, ist das auch nicht verwunderlich, denn Energie ist dort ohnehin günstiger als in Deutschland. Entscheidend wird eher sein, dass wir unsere raren Arbeitskräfte in Zukunftstechnologien mit hoher Wertschöpfung einsetzen – auch wenn dies auf der Mikroebene etwa Probleme verursachen wird.

Wie ordnen Sie in diesem Kontext den Verkauf des Wärmepumpenbauers Viessmann ein?

Das ist ein ganz normaler Vorgang, den Sie im Ausland mit umgekehrten Vorzeichen immer wieder sehen – nämlich dann, wenn deutsche Unternehmen dort auf Einkaufstour gehen. Ich denke, der Deal von Viessmann macht betriebswirtschaftlich Sinn und der Preis ist ein guter.

Am Markt wartet man auf den Gipfel der Zinsentwicklung. Wann sind wir oben angelangt?

Ich denke, dass es bei der allgemeinen Erwartung bleibt – die EZB wird noch zwei Zinsschritte von jeweils 0,25 Prozentpunkten nachlegen. Von da an geht die Inflation zurück. Dazu wird ein erstarkter Euro unterstützend beitragen.

Also doch alles wie früher?

Sicher nicht. Durch Preiserhöhungen der Unternehmen wurde eine Preis-/Profitspirale in Gang gesetzt, die kräftig zur Inflation beigetragen hat. Diese Entwicklung ist zwar auf dem Rückzug. Der Konsum, der dadurch aber ausgebremst wurde, hat sich bisher nicht wieder erholt. Die Frage ist nun, wie sich das in der Lohnbildung fortsetzt. Unterm Strich müssen wir uns klarmachen, dass der Kuchen, den es in der Gesellschaft zu verteilen gibt, kleiner geworden ist. Das liegt vor allem daran, dass Energie trotz der jüngsten Preisrückgänge nachhaltig teurer geworden ist. Und wir importieren eben den größten Teil der im Land genutzten Primärenergie. Aber das ist alles nichts gegen die Risiken, die seitens eines Zahlungsausfalls der US-Regierung drohten.

Nämlich?

Nachdem die USA bereits im Januar die Schuldenobergrenze erreicht haben, hat Washington einige außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen, um den Finanzmangel zu kompensieren. Unter anderem nutzt das Finanzministerium Barmittel bei der US-Notenbank. Einer Erhöhung der Schuldenobergrenze muss bekanntlich der US-Kongress zustimmen, in dem die oppositionellen Republikaner die Mehrheit haben und sich bisher einer Einigung verweigern. Dadurch droht die Gefahr eines Defaults der größten Volkswirtschaft der Welt – und das schon zum 1. Juni. Sollte also das Undenkbare eintreten und die USA ihren Zins- und Schuldendienst nicht mehr leisten können, könnte es zu chaotischen Zuständen an den Finanzmärkten kommen – egal, was der Grund dafür auch sein mag: Default ist Default.

Das Interview führte Thomas Spengler.

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