„Wir haben uns in Europa zu sehr eingeigelt“
„Wir haben uns in Europa zu sehr eingeigelt“
Im Interview: Jens Eisenschmidt
„Wir haben uns in Europa zu sehr eingeigelt“
Der Europa-Chefvolkswirt von Morgan Stanley zur Konjunktur sowie der Standort- und Klimapolitik im gemeinsamen Währungsraum
Im Interview plädiert Jens Eisenschmidt, Europa-Chefvolkswirt bei Morgan Stanley und Ex-EZB-Ökonom, für mehr Europa in einer sich schnell ändernden Welt. So würde mehr investiert und Produktion gehalten werden – und die Konjunktur erhielte mehr Momentum.
Herr Eisenschmidt, das erste Halbjahr lief für die Euro-Wirtschaft insgesamt ganz ordentlich. Wie werden die Zahlen zum dritten Quartal aussehen?
Grundsätzlich erwarten wir ein verhaltenes Wachstum, ganz konkret eine Quartalsrate von 0,1%. Die Lage ist noch sehr geprägt von der Gegenbewegung zum Anstieg im ersten und zweiten Quartal. Interessanterweise war dieser hauptsächlich durch Irland getrieben, das heißt, wir müssen auch wieder sehr stark nach Irland schauen. In Deutschland, Frankreich und Italien ist das Momentum gering. Spanien ist noch die Ausnahme, aber auch da sehen wir eine Abschwächung. Die Umfragen lassen auf ein ebenfalls verhaltenes viertes Quartal schließen. Die wirklichen Auswirkungen der Handelsverwerfungen der US-Zölle kommen erst noch.
Zur Person
Jens Eisenschmidt ist seit Februar 2022 Europa-Chefvolkswirt der US-Großbank Morgan Stanley. Zuvor war er über 15 Jahre bei der Europäischen Zentralbank tätig – unter anderem in den Bereichen Marktoperationen, Finanzstabilität und Geldpolitik. Vor seiner Zeit bei der EZB hatte der Vater von vier Kindern an der TU Dresden promoviert, als Ökonom bei HSBC gearbeitet und als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Alicante gelehrt. Eisenschmidt ist mit einer Spanierin verheiratet und geht gerne mal eine Runde joggen – sofern er die Zeit dazu findet.
Viele Köpfe bringen am Ende viel Konsum.
Spaniens Wachstum wird vom Tourismus getrieben?
Der Tourismus ist nicht einmal der Hauptauslöser. Vielmehr ist Spanien vergleichbar mit den USA: 2024 war viel Aktivität, getrieben durch Zuwanderung. Wegen Erleichterungen etwa bei den Zuwanderungsgesetzen. So können Ausländer in Spanien, nachdem sie dort studiert haben, vereinfacht eine Arbeit aufnehmen. Gerade aus Lateinamerika kam viel Zuwanderung in den Dienstleistungssektor. Das hat die Konsumdynamik im Land unterstützt – nicht auf einer Pro-Kopf-Basis, aber viele Köpfe bringen am Ende viel Konsum. Dazu gesellt sich der Tourismus, der wiederum von der Zuwanderung im Servicesektor profitiert. Und dann kommt die Investitionsdynamik durch den Covid-Fonds hinzu, und wird noch beschleunigt durch Verlagerung von Produktion nach Spanien.
Und wer verlagert Produktion nach Spanien?
Insbesondere Unternehmen aus Kerneuropa. Denn die Löhne und die Energiekosten in Spanien sind vergleichsweise niedrig und die Energiesicherheit trotzdem hoch.
Die USA erhoffen sich ja, über die Zölle Produktion ins Land zu holen ...
Bei der Frage ist nicht nur wichtig, wie hoch mein eigener Zoll ist, sondern auch, wo sich der des Wettbewerbers befindet. Man kann sich dann freuen, wenn man darunter liegt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn der Mitbewerber hat dadurch einen stärkeren Anreiz, Teile der Produktion in die USA zu verlagern. Tut er dies, müssen Sie nachziehen. Das ist exakt das Problem, das die meisten Firmen derzeit haben: Sie wissen nicht, was die beste Strategie ist.
Nach dem Handelsdeal der EU mit den USA machte sich zunächst Erleichterung breit. Wie sehr belastet die trotzdem noch hohe Unsicherheit Unternehmen?
Noch sind ja nicht alle Fragen des Deals abschließend geklärt, etwa die des weiteren Procederes, oder ob die 15% ein abschließender Deckel sind oder möglicherweise für bestimmte Produktkategorien überschritten werden könnten. Die meisten Ökonomen würden aber sagen, mit universell 15% Zoll sollte es schon einen Rücksetzer der Wirtschaftsleistung geben. Das wäre aber ein Einmaleffekt, der die Ausgangsbasis für neues Wachstum bildet. Innerhalb der EU und der Eurozone dürften exportabhängige Länder wie Deutschland und Italien die größten konjunkturellen Einbrüche aufweisen. In diesem und im kommenden Jahr wird der außenwirtschaftliche Dämpfer den steuerfinanzierten binnenwirtschaftlichen Stimulus dann überwiegen. Bislang sehen wir in den Daten erst die Vorzieheffekte, vor allem in Irland. Was wir noch nicht sehen, sind stark anziehende Investitionen, die frühere Zinssenkungszyklen nach sich gezogen haben.
Es gibt keinerlei Fantasie in den Standort.
Wie könnte man diese auslösen?
Durch Sicherheit auf der Binnenseite: Akzente setzen zum Beispiel hinsichtlich strategischer Autonomie oder der Entbürokratisierung – auf europäischer Ebene, aber das gilt natürlich auch für jedes Land einzeln. Einfach einen klaren Ausblick, dass sich die Investition hier lohnt, mehr als woanders. In Deutschland etwa tätigen Unternehmen nur Ersatzinvestitionen. Es gibt keinerlei Fantasie in den Standort, das liegt zum Teil auch am Regierungswechsel, es wurde einfach auf die Neue gewartet. Letztlich geht es darum, dass ich Vertrauen in den Standort brauche trotz aller Widrigkeiten wie einer alternden Bevölkerung, der geopolitisch schwierigen Situation oder der Energieunsicherheit. Jeder Investor braucht das Vertrauen, dass er auf Dauer eine entsprechende Rendite für seinen Kapitaleinsatz erhält.
Die Klagen der Wirtschaft über zu hohe Steuerlast oder zu viel Bürokratie sind berechtigt?
Ich glaube, wir haben uns in Europa zu sehr eingeigelt und versuchen, mit Hilfe von Regeln und Gesetzen, in einer sich schnell ändernden Welt einen Wohlstand zu erhalten, den man letztendlich nicht mit Regeln und Gesetzen erhalten kann. Er kann nur erwirtschaftet werden. Dazu braucht man natürlich auch einen verlässlichen Rahmen. Und dieser wird wiederum mit Regeln gesetzt. Werden diese aber zu kompliziert und will ich zu viel Wohlstand verklausulieren, dann verliere ich irgendwann die Basis dafür.
Wird die Klimapolitik so fortgesetzt, kann es durchaus sein, dass weltweit die Emissionen zulegen, statt zu sinken.
Dieser Tage warnte eine Allianz von 79 Industrieunternehmen vor einer Abwanderung von Produktion aus der EU wegen der steigenden Kosten infolge der Klimapolitik. Wie real ist die Gefahr der De-Industrialisierung?
Das ist immer eine relative Kostenfrage. Mitte 2022 kam ja das Thema mit den hohen Energiekosten auf. Als privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen ist es schwierig, diese Preise zu erwirtschaften, wenn es im Weltmarkt nicht dafür bezahlt wird, klimafreundlich zu produzieren und gleichzeitig die Klimaschäden überall anfallen. Europa hat sich aus einer Position des Wohlstands Regeln gegeben, die es gerne auch bei anderen Ländern sehen würde in seiner Vorreiterrolle bei der Emissionsreduktion. Europa ist aber sehr klein und droht so ökonomisches Gewicht zu verspielen, das für politischen Einfluss sorgt. Wird die Klimapolitik so fortgesetzt, kann es durchaus sein, dass weltweit die Emissionen zulegen, statt zu sinken, wenn man Produkte aus Wirtschaftsräumen bezieht, in denen man weit weniger Zugriff auf die Produktionsbedingungen hat. Das ist die Paradoxie, mit der man in der Wirtschaftspolitik in einem global verflochtenen Rahmen tagtäglich kämpft.
Würden Sie sich der Forderung des Frankfurter Ökonomen Volker Brühl anschließen, wonach der Green Deal überarbeitet werden muss, um die Unternehmen nicht zu überfordern?
Ich denke, man muss einen Blick darauf werfen, was man eigentlich erreichen möchte. Und es ist nicht klar, dass man das unmittelbar mit Emissionszielen erreicht. Das Ziel ist verständlich und komplett nachvollziehbar, aber man sollte die Instrumente noch mal hinterfragen. Bei den einzelnen Forderungen der Unternehmen muss man immer sehr vorsichtig sein. Wenn man Lobby-Briefe bekommt, sollte man sie aber auch sorgfältig lesen und daraufhin abklopfen, ob die Leute nicht eventuell einen Punkt haben.
Droht Europa, dass China im großen Umfang Exporte billiger Produkte von den USA nach Europa umleitet, um durch die Zölle weggefallene Absatzmärkte zu kompensieren? Wenn ja, welche Folgen hat das für europäische Unternehmen und welche für die Inflation?
Der Anteil der nicht-energieverbrauchsintensiven Industriewaren im Verbraucherpreisindex ist zu klein, als dass über diesen Kanal massive Disinflation kommen könnte. China exportiert allerdings andere Güter in die USA als nach Europa, daher dürfte die Wirkung auf die Industrie eingeschränkt sein. Auch je nachdem, ob es für die chinesischen Güter europäische Wettbewerber gibt. Sektoral allerdings könnte die Wirkung schon konzentriert sein, etwa bei Stahl oder E-Autos. Denn China ist eine staatsgelenkte Marktwirtschaft mit bestimmten Überkapazitäten, etwa bei Stahl.
Die Abhängigkeit von China ist immer noch sehr hoch, vor allem bei seltenen Erden. Die deutsche Rohstoffagentur hat Zweifel, ob deutsche Unternehmen in der Breite schon ausreichend erkannt haben, dass sie ihre Lieferketten diversifizieren sollten. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ich glaube schon, dass ein Bewusstsein für die Abhängigkeiten da ist. Gleichzeitig ist man sich aber auch im Klaren darüber, dass man sie nicht auf die kurze Frist reduzieren kann. Diversifikation ist teuer. Und es ist immer die Frage, wieviel Druck man dann hat, unmittelbar zu reagieren.
Der Export als Wachstumsbringer hat also ausgedient. Der Konsum könnte einspringen, das Verbrauchervertrauen allerdings verharrt im Keller.
Für Eurozonenverhältnisse hatten wir die letzten Jahre ein relativ starkes, robustes Konsumwachstum, auf der Basis der Realeinkommenszuwächse. Die Dynamik schwächt sich aber nun ab. Für eine Konsumbelebung bräuchte es zudem ein Absinken der Sparquote. Mit der ich wegen der Unsicherheit durch die geopolitische Situation, die US-Zölle und der Sorge vor dem Jobverlust nicht rechne. Historisch gesehen ist aber die Arbeitslosenquote der Faktor, der die Sparquote am besten erklärt.
Der Arbeitsmarkt läuft ja noch rund, die Arbeitslosenquote ist auf niedrigem Niveau...
Ja, aber in dem Umfeld, in dem wir uns befinden, mit einer schnell alternden Bevölkerung und einer abnehmenden Erwerbstätigkeit ist die Arbeitslosenquote nicht mehr das richtige Maß.
Auf welche Kennzahl sollte man dann schauen?
Auf die Beschäftigung und wie ausgereizt der Arbeitsmarkt ist. Da geht es auch um die Jugendarbeitslosigkeit, die Teilzeitquote in Deutschland oder um die Partizipationsrate in Italien. Oder die Frage, inwieweit die jeweiligen Tätigkeiten den Berufsabschlüssen entsprechen. In Deutschland würde ich zudem auf das gesetzliche und effektive Renteneintrittsalter blicken.
Die demografische Entwicklung spiegelt sich ja auch im Fachkräftemangel. Gibt es ein Land, das bei der Anwerbung von Fachkräften im Ausland besonders geschickt agiert?
Es gibt verschiedene Faktoren, die ein Land interessant machen: Eine gemeinsame Sprache oder ob es dort Auswanderer aus dem eigenen Kulturkreis gibt. Ein sehr wichtiger Faktor, und da ist Deutschland weit vorne dabei, ist die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes oder wie kompetitiv er wahrgenommen wird. Großbritannien und Spanien haben durch die Sprache einen großen Vorteil. Da man ja auch Zuwanderung über das Bildungssystem haben möchte, wäre es zum Beispiel sinnvoll, die Ressourcen bei der Hochschulfinanzierung zu bündeln. Wir haben ein tolles Hochschulsystem, das wird aber per Gießkanne gefördert. Sinnvoller wäre, zwei, drei Spitzenunis aufzubauen. Dem steht aber der Bildungsföderalismus entgegen.
Letztlich geht es um Rechtssicherheit.
Die US-Zollpolitik lässt leicht vergessen, wie hoch die Handelshürden auch zwischen den Euro-Ländern sind. Der IWF hat berechnet, dass diese einem Zollsatz von 45% auf Waren und 110% auf Dienstleistungen entsprechen würden. Was müsste in Sachen Binnenmarkt als nächstes angegangen werden?
Wir müssen eigentlich mehr die Vereinigten Staaten von Europa werden, so sehr wir das auch nicht mögen, mit den ganzen Befindlichkeiten, die wir hier in Europa vor uns hertragen. Für grenzüberschreitend tätige Unternehmen bedeuten die unterschiedlichen Regelungen etwa beim Verbraucherschutz, Datenschutz oder Insolvenzen Kosten. Letztlich geht es um Rechtssicherheit, dass man nur ein Regelwerk kennen muss und nicht alle spezifischen Regeln auf Länderebene.
Die Idee von der EU Kommission für einen einheitlichen Rechtsrahmen würde genau das treffen.
Genau, das geht in die richtige Richtung. Wir haben aber das Problem, dass wir in den Ländern starke verfassungsrechtliche Vorgaben haben, die am Ende immer als etwas unumstößliches bleiben.
In eine ähnliche Richtung geht der Diskussionsanstoß von Bundeskanzler Friedrich Merz für eine große europäische Börse.
Von der Idee her ist das sinnvoll, man braucht aber auch den entsprechenden Unterbau. Ich muss mich gleichzeitig mit der Fragmentierung beschäftigen, dass die Firmen auch tatsächlich den großen europäischen Markt haben.
Die EZB ist mit Blick auf die aktuelle Inflation am Ziel. Inwieweit würde sie sich aber unter Druck setzen lassen, wenn die Fed 2025 mehr Zinsschritte macht als vom Markt eingepreist?
Wenn die Fed jetzt deutlich stärker senkt, dann aufgrund einer deutlich schwächeren konjunkturellen Dynamik. Und das würde auch hier in Frankfurt noch mal ein weiteres Nachdenken auslösen. Ein direkter Anhaltspunkt ist natürlich der Wechselkurs.
Hat der Euro eigentlich das Potenzial, eine Alternative zum Dollar als Weltleitwährung zu werden?
Als Weltleitwährung brauche ich etwas, das unmittelbar zu Transaktionszwecken verwendet werden kann, sehr liquide ist, Zinsen abwirft und ein sicherer Hafen in Konfliktszenarien ist. Das kann Europa auf absehbare Zeit so nicht anbieten. Der Remnimbi wäre eine Möglichkeit. Der Euro ist aber eine Erfolgsgeschichte.
Wie sieht es denn mit dem digitalen Euro aus – wie dringend brauchen wir ihn?
Bei der Antwort muss man sicher auch berücksichtigen, dass es funktionierende privatwirtschaftlich organisierte, digitale Zahlungslösungen gibt. Man könnte also sagen: Das Produkt gibt es in Europa schon, nur nicht von einem staatlichen Akteur. Ob man ihn braucht ist also eine politische und keine rein ökonomische Argumentation.
Das Interview führte Alexandra Baude.
Das Interview führte Alexandra Baude.
