InterviewHarald Christ

„Wir sind weder in einer Krise, noch sind wir der kranke Mann Europas“

Unternehmer Harald Christ wirbt nach der Wahl für stabile Rahmenbedingungen und realistischere Erwartungen an die Politik. Vor der Wahl hatte er erstmals das später beschlossene Infrastrukturpaket über 500 Mrd. Euro gefordert. Der neuen Regierung traut Christ eine Stimmungswende zu, wenn Bürger und Unternehmen mitziehen.

„Wir sind weder in einer Krise, noch sind wir der kranke Mann Europas“

Herr Christ, Bundeskanzler Friedrich Merz ist erst im zweiten Wahlgang gewählt worden. Wie beschädigt ist er?

Die Wahl war zwar wirklich ein Totalschaden. Das hätte nicht passieren dürfen. Es ist aber passiert. Jetzt geht es darum, nach vorne zu blicken. Der Kanzler ist gewählt und die Regierung muss sehr schnell ins Handeln kommen. Der Blick in die Vergangenheit – auch in die jüngere – bringt uns nicht weiter. Ich hoffe nur, dass sich das bei zukünftigen Abstimmungen nicht wiederholt. Die Regierungsmehrheit kann äußerst knapp sein.

Das Instrument der Vertrauensfrage kann Friedrich Merz absehbar jedenfalls nicht bemühen, oder?

Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Aber das steht doch gar nicht zur Debatte. Jetzt geht es darum, anzupacken und umzusetzen. Die Regierung muss den Menschen möglichst schnell zeigen, dass sie handlungsfähig ist. Regierungen werden für vier Jahre gewählt. Da passt es nicht, in einer laufenden Legislaturperiode permanent die Koalitionsfrage zu stellen. Das wäre auch für unseren Standort nicht gut. Die Unternehmen brauchen für die nächsten Jahre Planungssicherheit.

Was denken Sie über das Kabinett?

Die Auswahl ist mutig, weil sie ein wirklicher personeller Neuanfang ist. Trotzdem gibt es nach wie vor erfahrene Köpfe. Boris Pistorius, Dorothee Bär und Alexander Dobrindt zum Beispiel. Deswegen ist das eine gute Kombination. Ich glaube, wenn zu viele der bekannten Köpfe im Kabinett gewesen wären, hätten wir eine ganz andere Diskussion. Ich kenne die meisten Minister persönlich gut und muss sagen, da gibt es keine Besetzung, die ich in Frage stellen würde. Es gibt Einzelpersonen mit mehr politischer Erfahrung und andere mit weniger Erfahrung. Das muss aber kein Nachteil sein.

Ich kenne die meisten Minister persönlich gut und muss sagen, da gibt es keine Besetzung, die ich in Frage stellen würde.

Taugt Lars Klingbeil als Finanzminister?

Die Leistungen von Lars Klingbeil, sowohl bis zur Wahl als auch in den Koalitionsverhandlungen bis zu den Personalentscheidungen, haben meinen höchsten Respekt angesichts der Komplexität in der SPD. Und er wird auch ein guter Finanzminister sein. Er holt sich in jedem Fall starke Leute und das ist wichtig. Ich kenne seine Staatssekretäre – zum Beispiel Rolf Bösinger, er ist ein sehr erfahrener Mann, der schon mal Staatssekretär im Finanzministerium war. Auch die Entscheidung, Björn Böning zu holen, der lange Erfahrung in unterschiedlichen Politikfeldern hat, finde ich exzellent.  

Gab es für Sie Überraschungen?

Überrascht hat mich positiv, dass mit dem Digitalminister jemand aus der Wirtschaft kommt, der Sachverstand von außerhalb der Politik mitbringt. Die Herausforderung wird hier sein, in der Komplexität des politischen Alltags anzukommen. Ich bin da aber erstmal grundoptimistisch. Die ein oder andere Berichterstattung zu den Personalien wundert mich allerdings – alle haben zunächst einen Vertrauensvorschuss verdient. Dass Katherina Reiche das Wirtschaftsministerium übernimmt, finde ich auch sehr gut.

Wichtiger als die Postenbesetzung ist die Umsetzung von Vorhaben. Was muss als erstes passieren?

Wir haben nach wie vor die Situation, dass wir dieses Jahr wahrscheinlich wieder kaum Wirtschaftswachstum haben werden. Das heißt, es muss jetzt sehr schnell etwas angepackt werden, was auch kurzfristig greift. Man muss aber auch ehrlich zu den Menschen und den Unternehmen sein: Es geht nicht alles von jetzt auf gleich. Im Erwartungsmanagement wäre ich etwas zurückhaltend: Eher mehr liefern, als man verspricht.

Man muss aber auch ehrlich zu den Menschen und den Unternehmen sein: Es geht nicht alles von jetzt auf gleich.

Vertrauen ist schnell aufgebraucht, wie man in den USA beobachten kann?

Vertrauen ist an den Märkten und in der Politik immer die härteste Währung. Und wenn irgendeine „Macht“ auf dieser Welt Donald Trump in die Schranken weisen kann, dann sind es die internationale Finanz- und Kapitalmärkte. Und das haben wir gerade in den letzten Wochen erlebt, weil Donald Trump kann sich eben nicht darauf verlassen, dass er einfach durchregieren kann. Am Ende entscheiden die Investoren selbst, wo und wie investiert wird. Das kann auch unmittelbare Auswirkungen auf die Refinanzierung der Staatsschulden haben.

Inwiefern?

Die USA haben eine Verschuldung von ungefähr 37 Billionen Dollar. Trump muss jedes Jahr über eine Billion Dollar Zinsen zahlen. Und zur Zeit wird das mehr, weil er Vertrauen verspielt und die Refinanzierung damit teurer geworden ist. 9 Billionen Dollar US-Staatsanleihen müssen mittelfristig prolongiert werden. Die internationalen Kapitalmärkte bringen ihn, da bin ich mir sicher, auf den Weg einer realitätsnäheren Politik. Zumal viele Unternehmen und Investoren zurzeit überlegen verstärkt von den USA nach Europa umzuswitchen. 

Hierzulande ist aber auch schon viel Vertrauen aufgebraucht?

Dass die AfD zur Zeit so stark ist, liegt auch daran, dass sehr viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit deutscher Politik verspielt worden ist. Es geht jetzt darum, Vertrauen herzustellen und zu zeigen, dass die Politik wieder näher bei den Menschen und ihren täglichen Problemen ist. In der Wirtschaft dreht sich die Stimmung bereits etwas. Viele Unternehmen, die die letzten Monate oder Jahre davon geredet haben, vielleicht ins Ausland abzuwandern, sind jetzt zurückhaltender. Die erkennen auch, wie wichtig die Stabilität einer starken Demokratie in Europa ist.

Das gilt aber vor allem für den Blick von außen auf Deutschland, oder?

Das ist eine große Hoffnung bei Fachkräften, Wissenschaft, Forschung. In Amerika fühlt sich vielleicht nicht mehr jeder so heimisch. Da entsteht ein Momentum, das wir nutzen sollten.

Da entsteht ein Momentum, das wir nutzen sollten.

Die USA locken Wissenschaftler nicht nur mit Forschungsfreiheit, sondern auch mit Forschungsmitteln. Müssen wir nachbessern?

Ich glaube, dass das passieren wird und es muss auch passieren. Mein Appell und auch meine Forderung an die Politik lautet, viel stärker auf Forschung und Innovationen zu setzen, weil das im Grunde die Wegbereiter für die Arbeitsplätze von morgen sind. Ich bin aber zuversichtlich, das hier schon Leistungsanreize geschaffen werden. Natürlich sind hier auch die Unternehmen gefordert. Es ist nicht nur Aufgabe der Politik.

Wichtiger werden Handelsabkommen angesichts der Konfrontation mit den USA. Wo sehen Sie Verbündete?

Ich bin für eine viel engere Zusammenarbeit mit Großbritannien. Ich habe ja schon mal gesagt, wir bräuchten eigentlich den Exit vom Brexit. Das muss nicht heißen, dass Großbritannien morgen wieder der EU beitritt. Aber wir sollten wieder so zusammenarbeiten, als wäre das de facto so. Andere Länder wie Kanada oder auch im asiatischen Raum, Middle East, Südamerika und Afrika kommen ebenfalls als engere Partner in Frage. Überall dort eben, wo die Länder aufgrund des Verhaltens von Donald Trump verunsichert sind und starke Allianzen suchen. 

Allianzen gegen die USA?

Sicher nicht. Wir müssen aber die Realitäten nehmen, wie sie sind. Wir könnten Trumps Entscheidungen lange bejammern und kommentieren. Machen ist jetzt aber angesagt. Anpacken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Laufe dieses Jahres eine Situation erleben werden, die wieder mehr an die Normalität heranrückt. Das jüngst beschlossene Handelsabkommens zwischen den USA und Großbritannien gibt Hoffnung. 

Wir könnten Trumps Entscheidungen lange bejammern und kommentieren. Machen ist jetzt aber angesagt. Anpacken.

Hat Friedrich Merz bessere Chancen auf ein gutes Verhältnis zu Trump als Olaf Scholz?

Er kann zumindest quasi neu anfangen und schleppt keine Vorbelastung mit sich rum. Darin liegt eine Chance, dass die Beziehungen auf einer neuen Basis starten kann. Aber bei Donald Trump heißt das natürlich nicht allzu viel. Der liefert sich an einem Tag ein Verbalgefecht mit Selenskyi vor der Weltöffentlichkeit und findet ihn zwei Wochen später wieder dufte. Ich glaube, mit dieser emotionalen Volatilität müssen wir zurechtkommen.

Welche drei Reformen sollte Merz als erstes angehen?

Sie reden von Reformen. Ich sage, wir brauchen erstmal einen stabilen Haushalt. Der ist die Grundlage für alles. Dann brauchen wir eine klare Grundlage für die Sondervermögen, die gebildet worden sind, sowohl für Verteidigung als auch für Infrastruktur. So kann das Geld möglichst zielgerichtet und zügig investiert werden. Dann brauchen wir schnell Fortschritte bei Digitalisierung, Bürokratieabbau und der digitalen Souveränität Deutschlands und Europas. Darüber wird ja gerne vor jeder Wahl geredet und nach den Wahlen passiert nichts. Und dann braucht es, wenn in dem Koalitionsvertrag etwas von einem 100-Tage-Wohnungsbau-Turbo drinsteht, zumindest einen Plan, wie man das in Umsetzung hinkriegen will. Unsere Schlüsselindustrien müssen unterstützt werden. Die Energiekosten müssen runter. Und in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern sollten wir das Flüchtlingsthema in den Griff bekommen. Es geht darum die nicht regulierte, nicht gewollte und auch nicht verfassungsrechtlich abgedeckte Zuwanderung im den Griff zu bekommen.

Arbeitsmigration erleichtern, sonstige Migration erschweren?

Das unterschreibe ich so nicht. Ich bin ein Verfechter des Asylrechts. Aber ich sage mal verkürzt, Zuwanderung in den qualifizierten Arbeitsmarkt? Ja. Zuwanderung in die Sozialsysteme aus vorgeschobenen Gründen? Nein.

Derweil fehlen immer mehr Fachkräfte…

Deshalb entsteht auch ein natürlicher Druck zum Abbau von Bürokratie und dem Einsatz von KI und Digitalisierung. Uns fehlen schlicht und ergreifend heute schon und in Zukunft erst recht die Fachkräfte. Und Bürokratie verursacht nicht nur Kosten. Sie bindet auch Personal, das an anderer Stelle dringender gebraucht wird. Ich habe schon ein bisschen die Hoffnung, dass durch das neue Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung jetzt ein neuer Drive rein kommt. Auch sollten wir den Menschen einfach länger die Chance geben, wenn sie es auch selbst wollen und können, am Arbeitsleben teilzunehmen. Da springen mir jetzt vielleicht die Gewerkschafter ins Kreuz. Aber das ist mir jetzt an dieser Stelle wurscht.

Im Ringen um Lösungen ist Zoff vorprogrammiert. Wie lässt sich die nächste Regierungskrise verhindern?

Wenn die Politik in der Sache auch mal hart diskutiert, dann ist das oft wirklich ein Ringen nach besten Lösungen. Und ein Ringen nach den besten Lösungen ist ja kein Streit, das ist ein demokratischer Prozess. Es wäre wichtig, wenn das dann nicht gleich als Streit oder gar Krise bezeichnet würde. Nicht jede Diskussion sollte als handfester Koalitionsstreit bezeichnet werden. 

Mein Appell an die Medien: Bitte nicht zu oft Krisen herbeischreiben.

Das Wort Krise fällt zu schnell?

Definitiv. Und das nicht nur mit Blick auf die Regierung. Auch mit Blick auf das Land. Wir sind weder in einer Krise, noch sind wir der kranke Mann Europas. Mein Appell an die Medien: Bitte nicht zu oft Krisen herbeischreiben. Wir sollten vorsichtig sein mit solchen Zuspitzungen. Weil diese Zuspitzungen sind es, was den Menschen da draußen Angst macht, Sorge macht und dann dazu führt, dass es unsere Demokratie destabilisiert, weil es die Populisten stärkt. Wirtschaft ist steter Wandel. Nehmen Sie die 100 Jahre der Industrialisierung. Wie viele Branchen gab es, die in Deutschland stark waren, die es heute gar nicht mehr gibt? Wirtschaft ist permanente Transformation. Diejenigen, die das verstehen und nutzen, die sind immer vorne und entwickeln sich weiter. Und diejenigen, die es eben nicht nutzen, bleiben auf der Strecke. Wir müssen es nur schaffen, dass wir die Transformation nutzen.

Und was hindert uns daran?

Zu oft lassen sich bei uns gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielen. Die Jungen sagen, die Alten würden die Zukunft versauen. Die Alten sagen, die Jungen haben kein Verständnis für unsere Rente. Die Vermögenden sagen, viele wollen nichts schaffen – was totaler Quatsch ist. Und die Ärmeren sagen, die Wirtschaft tut nichts für uns. Wir müssen die Gesellschaft vereinen und daraus eine Kraft entwickeln. Die letzten Jahre wurde konsequent eine spalterische Politik betrieben. Das hat auch die AfD für sich genutzt. Und da müssen wir raus.

Im Interview: Harald Christ

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Das Interview führte Sebastian Schmid.