Mark Zandi

„Wir sollten uns anschnallen“

Den USA steht angesichts von Inflationssorgen und eines drohenden Zahlungsausfalls ein heißer Herbst bevor. Vor allem im Streit über die Schuldengrenze erwartet Moody’s-Experte Mark Zandi „turbulente“ Wochen.

„Wir sollten uns anschnallen“

Peter De Thier.
Herr Zandi, US-

Notenbankchef Jerome Powell hat signalisiert, dass die Fed noch dieses Jahr be­ginnen könnte, ihre Anleihekäufe zurückzufahren. Rechnen Sie da­mit, dass nach der Sitzung des Offenmarktausschusses (FOMC) am Mittwoch ein konkreter Zeitplan bekanntgegeben wird?

Nein, so früh nicht. Nach der November-Sitzung könnten wir aber den zeitlichen Ablauf kennen, und im Dezember dürfte dann das Tapering beginnen. Das halte ich für das wahrscheinlichste, aber keineswegs für ein absolut sicheres Szenario. Bis dahin gibt es nämlich noch jede Menge Konjunkturdaten, die verarbeitet werden müssen. Unklar ist zudem, wie sich die Delta-Variante des Coronavirus auf die Wirtschaft auswirken wird.

In welchem Umfang wird die Fed ihr Tapering angehen, also ihre Anleihekäufe drosseln?

Ich rechne damit, dass die Anleihekäufe, die derzeit bei monatlich 120 Mrd. Dollar liegen, zunächst jeden Monat um 15 bis 20 Mrd. Dollar reduziert werden. Am stärksten werden davon Staatsanleihen betroffen sein, in geringerem Umfang die hypothekenbesicherten Wertpapiere. Zu erwarten ist, dass der Prozess bis Ende kommenden Jahres abgeschlossen sein wird und es erst danach wieder zu Zinserhöhungen kommt. Die erste Leitzinserhöhung dürfte das FOMC dann Anfang 2023 beschließen.

Powell hat wiederholt betont, dass er die deutlich höhere Inflation für eine vorübergehende Erscheinung hält, muss sich nun aber auch Kritik aus den eigenen Reihen anhören. Teilen Sie seine Meinung, dass die steigende Teuerungsrate nur temporär ist?

Absolut! Die derzeit hohe Inflation ist ein direktes Ergebnis der Corona-Pandemie. Nachdem im Frühjahr die Impfaktionen vorangeschritten waren, öffnete die Wirtschaft mit sehr hohem Tempo. Das kurbelte die Verbrauchernachfrage kräftig an, und die Angebotsseite der Wirtschaft konnte einfach nicht mithalten, nicht zuletzt wegen der massiven Störungen in den globalen Lieferketten. Wenn die Neuinfektionen als Folge der Delta-Variante weniger dramatisch sind als bei früheren Wellen und die Pandemie überwunden ist, dann dürften sich auch die Preise wieder auf einem niedrigeren Niveau einpendeln. Das größte Risiko sehe ich derzeit darin, dass die Inflationserwartungen unverändert hoch bleiben.

Die Fed rechnet dieses Jahr in den USA mit einer Wachstumsrate von 7,0%. Ist das zu optimistisch, gerade angesichts der nachlassenden Wirkung der Konjunkturpakete, die nun ausgelaufen sind?

Die US-Wirtschaft hat von den im Kongress verabschiedeten Konjunkturpaketen kräftigen Rückenwind erhalten, der nun aber nachlässt und bald der Vergangenheit angehören wird. Ab 2022 und dann erst recht im darauffolgenden Jahr wird sich das Fehlen der Stimulusmaßnahmen sogar zu einem ebenso starken Gegenwind entwickeln. Natürlich kann es sein, dass nächstes Jahr ein weiteres Paket in Gesetzesform gegossen wird. Sicher ist aber, dass es eine Phase geben wird, in der die Wirtschaft auch ohne das wird auskommen müssen. Trotzdem halte ich die Fed-Prognose keineswegs für zu optimistisch. Getragen werden dürfte der Aufschwung vom Stellenwachstum, das sich deutlich beschleunigen wird, vor allem dann, wenn wir die Delta-Variante des Coronavirus im Griff haben. Zuversichtlich stimmen mich auch die robusten Produktivitätssteigerungen, die in den Prognosen der Fed, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderer nicht einmal berücksichtigt sind.

Die Arbeitslosenquote geht kontinuierlich zurück und erreichte im August 5,2%, doch das Stellenwachstum ist volatil und war zuletzt sehr schwach. Wie schätzen Sie die weiteren Perspektiven für den Arbeitsmarkt ein?

Die Fed betrachtet eine Arbeitslosenquote von etwa 3,5%, die exakt dem Vorkrisenniveau entspricht, als Vollbeschäftigung. Wir befinden uns also auf dem richtigen Weg, sind aber noch ein ganzes Stück vom Ziel entfernt. Das gelegentlich langsame Stellenwachstum hingegen ist ein weiterer Auswuchs der Pandemie und der Ungewissheit über deren weiteren Verlauf. Lässt diese Unsicherheit irgendwann nach, dann könnten bis zu 6 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter wieder auf den Arbeitsmarkt kommen und neue Stellen annehmen. Dem stehen sogar 11 Millionen offene Stellen gegenüber, von denen nicht anzunehmen ist, dass sie in absehbarer Zeit besetzt werden können.

Powell verweist unter anderem auf die niedrige Partizipationsrate – wird diese wieder steigen?

Nein, das glaube ich nicht. Zum einen deswegen, weil Vertreter der Baby-Boom-Generation, die sich dem Rentenalter nähern, nicht zurückkommen werden. Sie haben natürlich das große Glück, dass die hohen Aktienkurse zu bedeutenden Wertsteigerungen in ihren Pensionsportfolios geführt und zudem die Immobilienpreise kräftig zugelegt haben. Auch werden viele ausländischen Fachkräfte und Gastarbeiter nicht mehr an den Arbeitsmarkt zurückkehren, weil sie nicht mehr einreisen können. Dazu hat vor allem die strikte Einwanderungspolitik des ehemaligen Präsidenten Donald Trump maßgeblich beigetragen. Folglich werden die Engpässe am Arbeitsmarkt weiter Bestand haben.

Apropos Immobilienpreise – ha­ben Sie die Sorge, dass sich bei jährlichen Wertsteigerungen von um die 20% die nächste Blase abzeichnen könnte?

Keine Frage, das sind schon stattliche Steigerungsraten, die wir sehen. Wenn die Preise im kommenden Jahr so stark steigen wie im vergangenen, dann werden wir in der Tat wieder eine Blase haben. Immobilien sind derzeit auf jeden Fall überbewertet. Grund zur Sorge gibt es noch nicht, aber die Warnsignale sind unverkennbar.

Wie wird die Debatte über das gesetzliche Schuldenlimit ausgehen? Schließlich wird laut Finanzministerin Janet Yellen dem Finanzministerium im Oktober das Geld ausgehen.

Wir sollten uns anschnallen, denn das wird in den kommenden Wochen eine turbulente Reise. Natürlich geht es den Republikanern und den Demokraten darum, politisch zu punkten, und eine Einigung erwarte ich bestenfalls in buchstäblich letzter Sekunde. Denkbar sind mehrere Szenarien, darunter auch ein weiterer Shutdown. Schließlich beginnt das neue Haushaltsjahr am 1. Oktober, und wenn man sich nicht auf eine Finanzierung des staatlichen Verwaltungsapparats einigt, dann ist der Stillstand unausweichlich.

Die langfristig gesehen wichtigere Frage ist aber wohl der Streit über das Schuldenlimit.

Genau, darin besteht in der Tat die größere Gefahr. Kommt es nämlich zu keiner Anhebung der Grenze, dann würde das Chaos an den Finanzmärkten auslösen. Ich kann nur hoffen, dass die Parlamentarier dies auch begreifen, letzten Endes ein höheres Limit absegnen und damit Schlimmeres abwenden. Nervöser als in der Vergangenheit bin ich diesmal deswegen, weil die Parteien so tief gespalten sind und die politische Unsicherheit größer ist denn je. Notfalls müssten die Demokraten auf dem Wege des „Reconciliation“ mit einer einfachen Mehrheit ein Haushaltsgesetz verabschieden und darin das höhere Schuldenlimit einbauen.

Wie ist es denn um die Tragfähigkeit der Schulden bestellt – bei einer Verschuldungsquote von etwa 130% des Bruttoinlandsprodukts (BIP)?

Kurzfristig bereitet mir das überhaupt keine Sorgen. Auf kurze Sicht ist nämlich der Schuldendienst das entscheidende Kriterium, und bei diesen historisch niedrigen Zinsen ist das kein größeres Problem. Auch ist zu erwarten, dass die Schuldenlast und die Quote schrumpfen werden, weil die Wachstumsrate höher liegt als der Nominalzins. Die Tragfähigkeit halte ich deswegen nicht für ein Problem, zumindest nicht auf kurze oder mittlere Sicht. Zudem ist zu bedenken, dass wir ohne die Konjunkturpakete, welche die Verschuldung hochgetrieben haben, keine Erholung gehabt hätten und wesentlich gravierendere Probleme aufgetreten wären – etwa strukturelle Probleme sowie eine längere und tiefere Rezession, als wir sie hatten. Dies ändert nichts daran, dass sobald Vollbeschäftigung erreicht ist, fiskalische Disziplin und Defizitabbau angesagt ist. Ohne dies würden die Staatsschulden die Wirtschaft nämlich langfristig tatsächlich vor große Herausforderungen stellen.

Wird es den Demokraten und Republikanern gelingen, sich auf ein neues Haushaltsgesetz zu einigen? Die derzeitige Vorlage in Höhe von 3,5 Bill. Dollar stößt selbst bei einigen Demokraten auf Widerstand.

Das Problem liegt in dem immens hohen Preisschild. Die Republikaner hätten vielleicht 1,5 Bill. Dollar zugestimmt. Ich habe den Eindruck, dass wir letzten Endes ein Budget im Wert von 2,5 Bill. Dollar bekommen werden. Die Demokraten können es sich schlichtweg nicht leisten, gar keinen Deal zu erreichen. Schon deswegen, weil sie ein Budget auch verabschieden könnten, ohne Republikaner an Bord zu haben. Kein Gesetz zu zimmern wäre für die Demokraten politischer Selbstmord, deswegen rechne ich fest mit einem Kompromiss.

Das Interview führte

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.