Markus Pieper, CDU-Europaabgeordneter

„Wir werden die Wirtschaft nicht überfordern“

Die Reform der Erneuerbare-Energien-Richtlinie ist zentraler Teil des EU-Klimapakets „Fit for 55“. Markus Pieper, zuständiger Berichterstatter für das Dossier im EU-Parlament, verlangt ambitionierte Ziele für 2030 – auch als politisches Signal, wie er im Interview betont.

„Wir werden die Wirtschaft nicht überfordern“

Andreas Heitker.

Herr Pieper, nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat das EU-Parlament unter Ihrer Führung relativ schnell das Ziel für den Ausbau erneuerbarer Energien bis 2030 erhöht. Ihr Anteil am Bruttogesamtenergieverbrauch soll bis dahin auf 45% steigen, nicht mehr nur auf 40%. Warum hat dieser raschere Ausbau von Wind und Solar für Sie so eine Bedeutung?

Die Erneuerbaren sind die einzige Energieform, die die EU unabhängiger von äußeren politischen Einflüssen machen kann. Sie sollte natürlich weitestgehend in Europa produziert werden. Hinzu muss aber auch eine kluge Importstrategie kommen, die breit diversifiziert ist. Eine solche Strategie sieht damit auch anders aus als im fossilen Bereich, wo aktuell wieder neue Abhängigkeiten von autokratischen Staaten entstehen.

Im Augenblick kommen wir gerade einmal auf einen Erneuerbare-Energien-Anteil in der EU von etwa 20%. Wie realistisch ist denn ein solcher Sprung auf 45% innerhalb von nur acht Jahren?

Die EU-Kommission hatte im vergangenen Jahr im Rahmen ihres „Fit for 55“-Klimapakets eine Machbarkeitsstudie vorgelegt für eine Erhöhung der Ziele auf 40%. Und diese hat gezeigt, dass der Weg zwar ambitioniert, aber machbar ist. Durch den russischen Angriffskrieg müssen wir jetzt einfach ein weiteres Beschleunigungssignal geben. In der Kürze der Zeit ist für das neue Ziel keine Folgenabschätzung erfolgt. Ich sehe die 45% aber vor allem auch als politisches Signal – damit sich wirklich schnell etwas tut.

Deutschland liegt beim Anteil der Erneuerbaren doch aktuell schon deutlich über 20%, oder?

Beim Stromverbrauch ja. Aber beim Gesamtenergieverbrauch mit der Wärmeversorgung in den Häusern und dem gigantischen Anteil an Prozesswärme in der Industrie, die oft auf Kohlestaub oder Gasturbinen basiert, sieht es anders aus. Da sind wir in Deutschland auch erst bei rund 20%. Da ist auch hier noch sehr viel zu tun.

Das EU-Parlament will nun nach der Sommerpause über das 45-%-Ziel und über Ihre sonstigen Vorschläge zur Reform der Erneuerbare-Energien-Richtlinie ab­stimmen. Im Industrieausschuss haben Sie bereits einen breiten Konsens erreicht.

Ja, und der Industrieausschuss sagt nicht nur „Schneller – höher – weiter“, wie das sonst oft der Fall ist. Vielmehr haben wir eine sehr pragmatische Linie gefunden, bei der wir uns hinter neuen Vorschlägen versammeln, die über das hinausgehen, was die EU-Kommission bislang vorgeschlagen hat – beispielsweise bei den Herkunftsnachweisen für erneuerbare Energien.

Warum sind die so wichtig?

Das heutige System von Herkunftsnachweisen ist schon 25 Jahre alt. Es muss ein modernes, neues System geben, bei dem immer gleich klar ist, wie hoch die jeweiligen Grünstromanteile sind. Das ist wichtig, um den schnellen Hochlauf auch transparent realisieren zu können. Wir haben hierfür ein granulares, digitales System vorgeschlagen, bei dem die Anlagenbetreiber dann wirklich rechtssicher arbeiten, handeln und ihre Anteile poolen können. Es gibt übrigens auch schon zahlreiche Start-ups, die in diesem Bereich ihr technisches Know-how einbringen wollen.

Sie erwähnten eine intelligente Importstrategie. Wie könnte diese denn aussehen?

Wenn wir bei den Erneuerbaren schnell wachsen wollen, gehören diversifizierte Importe auf jeden Fall dazu. Wir werden in Europa nur einen Erneuerbaren-Anteil von 30 bis 40% selbst produzieren können. Es geht um den Import von grünem Wasserstoff, auf den wir uns fokussieren müssen. Wir dürfen diesen grünen Wasserstoff aber nicht einfach in Entwicklungsländern abschöpfen. Es geht vielmehr um Win-win-Situationen einschließlich von Technologietransfers, damit die Partnerländer diesen grünen Wasserstoff auch selbst herstellen können.

Wie schnell könnte man denn diese neuen Partnerschaften auf­bauen?

Das wird sicherlich noch zwei bis fünf Jahre dauern, bis Ergebnisse solcher Kooperationen messbar sind. Es ist aber viel Bewegung in dem Bereich. Es gibt Hunderte Projekte, an denen auch große deutsche Industriekonzerne beteiligt sind – in Afrika, Aus­tralien oder auch Zentralasien. In vielen Ländern setzt man auch auf die europäische Nachfrage. Und von EU-Seite könnte hier auch die Global-Gateway-Initiative zum Tragen kommen – eine Art europäische Seidenstraße, nur im Bereich der nachhaltigen Energie. Wichtig ist aber auch, dass Europa dabei nicht auf dem grünem Wasserstoff mit ökologischem Goldrand besteht. Gerade im Übergang und für den schnellen Hochlauf werden wir hier auch Low-Carbon-Wasserstoff benötigen, sprich beim Erdgas CO2-Abscheide-Technologien wie CCS und auch Wasserstoff aus Kernkraft sollten kein Tabu sein.

Welche speziellen Sektorziele sollten denn bei der Reform der Erneuerbare-Energien-Richtlinie festgeschrieben werden?

Das EU-Parlament will ebenso wie die Kommission, dass die Industrie bis 2030 auf einen grünen Wasserstoffanteil von 50% und der Gebäudesektor auf einen Erneuerbare-Energien-Anteil von 49% kommt. Ich halte diese Ziele auch für realistisch, auch wenn die Mitgliedstaaten im Rat hier bremsen wollen. Wir werden die Wirtschaft nicht überfordern, wenn wir auch alte Anlagen zur Wasserstoffproduktion nutzen dürfen, was im Parlament noch umstritten ist. Wir planen mindestens alle ein bis zwei Jahre eine Überprüfung der Regeln. Und wenn der Hochlauf dann nicht funktioniert wie geplant, dann kann man Ziele auch anpassen.

Und was ist mit dem Verkehrsbereich?

Da haben wir in unserem Kompromiss eine sehr hohe E-Fuels-Quote von 5,7% bis 2030 gesetzt. Es braucht hier eine verbindliche Quotierung, um den Bereich der synthetischen Kraftstoffe viel stärker anzureizen. Dies werden wir im September auch so durchs Plenum bringen. Das bedeutet dann eine höhere Verfügbarkeit dieser Kraftstoffe für Flugzeuge, Schiffe, aber auch für Lkw und letztlich für Pkw. Ich will da nichts ausschließen.

Sie meinen, Verbrennungsmotoren in Pkw gehören in ein paar Jahren doch noch nicht völlig der Vergangenheit an?

Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn die Importstrategie steht, wir dann in zehn bis 15 Jahren keinen Mangel an bezahlbarem Wasserstoff haben werden. Deswegen müssen wir heute schon Europa und die europäische Technologie fit machen, damit sie sich auch auf dieses synthetische Zeitalter einstellt. Es wird nicht nur in Richtung Elektrifizierung und Ladesäulen gehen, sondern Mobilität wird weiter auch Verbrennungsmotoren einfordern. Andere Teile der Welt, insbesondere China, sind in ihren Forschungsschwerpunkten schon längst auf einem Weg viel stärker hin zu synthetischen Kraftstoffen. So sehr Europa auf Elektromobilität setzen muss – wir müssen mit Blick auf die globale Wettbewerbssituation auch technologieoffen bleiben.

In der zweiten Jahreshälfte beginnen die Schlussverhandlungen mit dem Rat über die künftige Ausgestaltung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Erwarten Sie noch harte Auseinandersetzungen mit den EU-Mitgliedstaaten?

Es wird nicht einfach werden. Bei den Mitgliedstaaten sehe ich leider viele Vorbehalte und wenig Kreativität. Das EU-Parlament bringt in seiner Mehrheitsfindung viele Vorschläge ein, wie es denn gehen könnte mit den hohen Zielen. Nehmen Sie die granularen Herkunftsnachweise, die intelligente Importstrategie oder die indirekten Wasserstoffverträge, die nicht auf einer rein physischen Zulieferung bestehen, sondern wie bei Grünstromverträgen eine vertragliche Bindung für die zusätzliche Produktion von grünem Wasserstoff an anderer Stelle möglich machen. Außerdem wollen wir die Synergien des europäischen Binnenmarktes verbindlicher und innovativer nutzen.

Was meinen Sie damit?

Wir wollen die Anzahl der grenz­überschreitenden Projekte gegenüber den Kommissionsvorschlägen verdoppeln. Im Wasserstoff- und im Off­shore-Bereich soll es mehr verbindliche Kooperationen zwischen den EU-Staaten geben. Das kommt in den bisherigen Vorschlägen viel zu kurz. Dann sollten wir außerdem auch nicht die Fehler der Vergangenheit machen und etwa eine auf 20 Jahre garantierte Einspeisevergütung beschließen. Wir schlagen eine Innovationskomponente vor: 5 Prozentpunkte des Erneuerbaren-Anteils, den die Mitgliedstaaten aufbauen, sollen über den aktuellen Stand der Technik hinausgehen müssen.

Die EU-Kommission ist mit ihren „RePowerEU“-Vorschlägen mittlerweile auch auf das 45-%-Erneuerbare-Energien-Ziel bis 2030 eingeschwenkt, das vom EU-Parlament gesetzt wurde. Dafür soll es jetzt aber noch ein weiteres Gesetzesverfahren geben – was nicht so ganz verständlich ist. Oder sehen Sie das anders?

Nein. Die Kommission hat mit „Re­PowerEU“ mehrere Vorschläge aufgegriffen, die bereits in meinem Bericht zu finden sind. Dazu gehören das 45-%-Ziel oder auch die beschleunigten Genehmigungsverfahren mit Kompromissen im Bereich der Biodiversität. Jetzt legt die Kommission noch einmal einen neuen Gesetzesvorschlag vor, statt diese längst gemachten Ideen des Parlaments im laufenden Verfahren zu unterstützen. Das hat vielleicht auch ein wenig mit Eitelkeiten zu tun. Befindlichkeiten und unnötige Zeitverzögerungen können wir uns in der jetzigen Situation aber einfach nicht mehr leisten.

Das Interview führte

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