NOTIERT IN BRÜSSEL

Zehn Gänge und fünf Grundfreiheiten

Über Europas Zukunft wird in diesen Tagen viel gesprochen. Gestern Abend trafen sich hierzu die 28 Staats- und Regierungschefs der EU in Tallinn und nutzten ein gemeinsames Abendessen im Vorfeld des heutigen EU-Digitalgipfels für einen weiteren...

Zehn Gänge und fünf Grundfreiheiten

Über Europas Zukunft wird in diesen Tagen viel gesprochen. Gestern Abend trafen sich hierzu die 28 Staats- und Regierungschefs der EU in Tallinn und nutzten ein gemeinsames Abendessen im Vorfeld des heutigen EU-Digitalgipfels für einen weiteren Austausch. Sollten alle Themen aus dem Einladungsschreiben von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der hier den Vorsitz führte, auch nur kurz angesprochen worden sein, wird es wohl ein Zehn-Gänge-Menü gewesen sein müssen, das in der estnischen Hauptstadt gereicht wurde. *Ob Bundeskanzlerin Angela Merkel in Tallinn schon so richtig sprechfähig war angesichts des noch völlig unklaren Ausgangs der anstehenden schwierigen Koalitionsverhandlungen, ist bislang nicht überliefert. Es dürfte aber auch für sie interessant sein zu hören, dass es in der deutschen Wirtschaft durchaus auch viele Fans von Frankreichs Shootingstar Emmanuel Macron gibt. “Aus Sicht der Wirtschaft ist es wichtig, dass wir Europa stärken”, betonte gestern der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, in Brüssel. Zwar ist er nicht mit allen Details von Macrons großer Europa-Rede am Dienstag an der Sorbonne einverstanden, lobt aber die klare proeuropäische Positionierung des Franzosen. *Eine Umfrage, die der DIHK kurz vor der Bundestagswahl unter 1 800 Mitgliedsunternehmen durchgeführt hat, gibt ebenfalls klare Antworten: Demnach sagen 87 % der Unternehmen, dass der Zusammenhalt der EU und damit des Binnenmarktes auch durch das Brexit-Verhandlungsergebnis nicht gefährdet werden darf – selbst wenn der Handel mit Großbritannien dadurch Schaden nehmen könnte. Das ist durchaus bemerkenswert, ist das Vereinigte Königreich doch der drittgrößte Exportmarkt für Deutschland mit einem Jahres-Handelsvolumen von zuletzt mehr als 120 Mrd. Euro. Aber sollte die EU-27 den Briten tatsächlich das Rosinenpicken erlauben und auch nicht konsequent die vier Grundfreiheiten im Binnenmarkt verteidigen, warnt auch Schweitzer, so würde dies wohl schnell Nachahmer finden und mittelfristig zu einem Auseinanderbrechen der ganzen EU führen. *Folgt man den Esten, die aktuell ja die EU-Ratspräsidentschaft innehaben, wird es demnächst sogar noch eine fünfte Grundfreiheit geben – nämlich die für Daten. Alles Weitere wird heute auf dem Digitalgipfel besprochen. Ob außer Absichtserklärungen auch konkrete Schritte für mehr Datensicherheit, für eine Stärkung der Netzinfrastruktur und vor allem für ein leichteres grenzüberschreitendes Datenhandling folgen werden, bleibt abzuwarten. Ohnehin ist nach dem Gipfel in der EU zurzeit ja vor dem Gipfel, um einmal eine alte Fußballerweisheit umzumünzen. In den nächsten Monaten stehen auf europäischer Ebene unter anderem noch ein Sozial-Gipfel, ein Östliche-Partnerschaften-Gipfel und ein Westbalkan-Gipfel auf der Agenda. Und Donald Tusk hat für Dezember auch noch einen Euro-Gipfel vorgeschlagen. Denn konkrete Entscheidungen rund um die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion oder die Vollendung der Bankenunion sollen nach Angaben des Polen spätestens auf dem “normalen” EU-Gipfel im Juni 2018 fallen. *Eigentlich würde jetzt noch ein EU-Handelsgipfel fehlen. Aber bei diesem Thema läuft es ja ohnehin gerade ganz gut in Brüssel. Eine Grundsatzeinigung mit Japan steht, eine mit den Mercosur-Staaten soll bis Jahresende folgen. Und mit Australien und Neuseeland sollen jetzt Verhandlungen aufgenommen werden. In der DIHK-Umfrage sagten auch deutliche 80 % der Unternehmen, dass Freihandel Vorteile für die deutsche Wirtschaft bringe, auch wenn der Wettbewerbsdruck dadurch zunehme. Die Bundesregierung sollte sich daher gemeinsam mit der EU gegen Protektionismus einsetzen, wird gefordert – haben Handelshemmnisse zuletzt doch deutlich zugenommen.