NOTIERT IN WASHINGTON

Zweierlei Maß

Seine Unberechenbarkeit hält US-Präsident Donald Trump ja bekanntlich für seine Stärke. Nicht selten vertröstet er Reporter mit den Worten "Wir werden sehen, was passiert" und spannt damit die gesamt Nation auf die Folter. Äußerst untypisch war...

Zweierlei Maß

Seine Unberechenbarkeit hält US-Präsident Donald Trump ja bekanntlich für seine Stärke. Nicht selten vertröstet er Reporter mit den Worten “Wir werden sehen, was passiert” und spannt damit die gesamt Nation auf die Folter. Äußerst untypisch war daher während der letzten Wochen Trumps Reaktion auf den eskalierenden Skandal um den republikanischen Senatskandidaten Roy Moore. Hartnäckig hatte Trump zu der Frage geschwiegen, ob er den 71-jährigen Richter aus Alabama, dem mittlerweile acht Frauen vorwerfen, sie als Minderjährige belästigt zu haben, weiterhin unterstützen wird.Dabei hatte Trump zuletzt vor dem Hintergrund einer scheinbar endlosen Serie von Anschuldigungen gegen Schauspieler, Politiker und nun auch bekannte Journalisten seine Feinde sorgfältig ausgewählt. Dem linksliberalen Senator Al Franken etwa, der eine schlafende Frau berührte und davon obendrein ein Foto machte, gab Trump den abschätzigen Spitznamen “Frankenstein”. Auch gegen andere, etwa Hollywood-Produzent Harvey Weinstein, zog der Präsident her, aber zu seinem Parteifreund Moore verlor er kein böses Wort.Pünktlich zum Auftakt des langen Feiertagswochenendes, zu dem sich der Trump-Clan auf dem Winterwohnsitz Mar-a-Lago einfinden wird, brach der sonst redselige Präsident endlich sein Schweigen. “Wir dürfen keinen liberalen Demokraten in diesem Senatssitz haben”, sagte er vor Betreten des Regierungshubschraubers Marine One. Womöglich wünscht sich Trump im Nachhinein, dass seine Worte von dem Dröhnen des Helikoptertriebwerks übertönt worden wären. Schließlich hat er damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Führer der freien Welt einen angeblichen Kinderschänder für den richtigen Mann hält, um jenen Senatssitz zu übernehmen, der durch die Berufung von Jeff Sessions zum Justizminister freigeworden war.Was generell die Kritik an Männern anbetrifft, denen Belästigung vorgeworfen wird, befindet sich Trump natürlich in einer prekären Lage. Vergangenen Herbst war bekanntlich wenige Wochen vor seinem unerwarteten Wahlsieg eine Videoaufzeichnung aufgeflogen, in welcher der republikanische Spitzenkandidat damit angab, er könne sich beliebig an Frauen vergreifen, weil er ein Star sei. Bald danach traten nicht weniger als 13 angebliche Opfer an die Öffentlichkeit und behaupteten, der Fernsehstar und Unternehmer habe sie in der Vergangenheit belästigt.Dass dies Trumps Siegeschancen keinen Schaden zufügte, liegt an dem doppelten Maßstab, den der Republikaner ebenso wie seine Anhänger anwendet. Mehr als ein Dutzend angeblicher Opfer von Trumps unangemessenen Annäherungen hätten alle gelogen, wies er die Anschuldigungen seinerzeit von der Hand. Prompt verlief sich der Skandal im Sande. Den Vorwürfen gegen Moore dürfte dieselbe Motivation zugrunde liegen, dass sie nämlich aus politischen Gründen lügen, spekulierte Trump, denn der Senatskandidat habe “alles bestritten”. Stehen hingegen liberale Kongressmitglieder oder Hollywood-Koryphäen am Pranger, dann lobt der Präsident die “starken Frauen” und deren Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen.Mit der Entscheidung, dem umstrittenen Richter aus Alabama den Rücken zu stärken, begibt sich der Präsident jedenfalls erneut aufs Glatteis. Schließlich halten eine klare Mehrheit der Senatoren, darunter auch führende Republikaner, Moore für den falschen Kandidaten. “Ich glaube den Frauen”, sagte etwa Mitch McConnell, der Mehrheitsführer in der oberen Kammer. Andere haben bereits gefordert, dass man Moore im Falle eines Sieges mit einer Zweidrittelmehrheit aus dem Senat verbannt, ein Verfahren, das sich aber über Jahre erstrecken könnte. Für Trump, der mit der Steuerreform um jeden Preis seinen ersten bedeutenden legislativen Erfolg feiern will, geht es aber allein ums politische Kalkül. Dafür benötigt er die Stimme des Republikaners. Darüber hinaus wären im Falle einer Moore-Niederlage auch andere Gesetzesvorhaben in Gefahr, da die republikanische Mehrheit im Senat auf nur einen Sitz schrumpfen würde. Für Trump zählt aber wie immer allein der eigene Sieg, den er so dringend notwendig hat – ohne Rücksicht auf die moralischen Konsequenzen.