Volker Wieland

„Zweistellige Inflationsraten sind nicht auszuschließen“

Der scheidende Wirtschaftsweise Volker Wieland über den hartnäckigen Preisauftrieb in Deutschland und Euroland, die Folgen des Ukraine-Kriegs und die zögerliche Politik der Europäischen Zentralbank.

„Zweistellige Inflationsraten sind nicht auszuschließen“

Mark Schrörs.

Herr Professor Wieland, nach neun Jahren als Mitglied des Sachverständigenrats, als Wirtschaftsweiser, ist jetzt Ende April für Sie Schluss – Sie scheiden vorzeitig aus. Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung? Worauf sind Sie vielleicht auch ein bisschen stolz?

Da sind sehr viele schöne Erinnerungen – die intensiven Diskussionen mit den Kollegen im Rat, die Arbeit mit dem Mitarbeiterstab des Rats, der Austausch mit der Politik, etwa beim jährlichen Mittagessen im Kanzleramt. Ganz besonders in Erinnerung sind mir aber teilweise unsere Sondergutachten. Im März 2020 zum Beispiel haben Lars Feld, Achim Truger und ich mit dem Stab aus dem Homeoffice heraus binnen nur drei Wochen ein Sondergutachten zu Corona erarbeitet, das sich später als relativ treffsicher herausstellte. Bereits 2019 haben wir alle zusammen ein Sondergutachten zur Klimapolitik gemacht. Das war und ist heute noch eine sehr gute Quelle für das, was zu tun ist. Und ganz aktuell haben wir uns zur Energieabhängigkeit von Russland positioniert, mit klaren Botschaften. Das war auch für mich ein schöner Abschluss.

Sie haben Ihren vorzeitigen Abschied vor allem mit persönlichen Gründen erklärt. Aber sicher ist auch die Lage im Rat alles andere als einfach: Seit Anfang 2021 gab es nur vier statt fünf Mitglieder, weil die Politik sich auf keinen Nachfolger für den ausgeschiedenen Vorsitzenden Lars Feld einigen konnte, und es gab eine gewisse Pattsituation mit Ihnen und Veronika Grimm als eher ordnungspolitisch orientierten Mitgliedern sowie mit Monika Schnitzer und Achim Truger auf der eher linken Seite des wirtschaftspolitischen Spektrums.

Für mich waren die persönlichen Motive schon länger ein Thema. Zum einen war die Coronazeit familiär eine sehr große Herausforderung. Zum anderen ist die Position als Ratsmitglied eigentlich nur eine Nebentätigkeit, die einen aber immer wieder über längere Zeit absorbiert. Bei meinen Aufgaben als Leiter eines Universitätszentrums kommt da mitunter einiges zu kurz. Das gilt auch für die Forschung. Zuletzt waren aber auch die Umstände im Rat nicht optimal. Für jeden bedeutet das Mehrarbeit und damit eine zusätzliche Belastung. Zu viert ist es etwa deutlich schwieriger, Mehrheiten zu finden. Die Politik sollte die nun zwei freien Posten schnellstmöglich besetzen. Ich bin recht zuversichtlich, dass das gelingt. Für mich war aber schon bei der Wiederernennung klar, dass ich die zweite Amtszeit nicht zwingend ganz vollende – was auch keineswegs ungewöhnlich ist. Mehr als neun Jahre Mitgliedschaft ist deutlich mehr als der Durchschnitt. Ohne die Coronakrise und den Ukraine-Krieg wäre ich möglicherweise schon früher ausgeschieden.

Mancher Beobachter sieht eine gezielte Schwächung des Sachverständigenrats, nicht zuletzt durch Bundeskanzler Olaf Scholz, der wenig Interesse an unabhängiger Expertise von Ökonomen habe. Was sagen Sie dazu?

Es gibt zwei Arten von Politikberatung, die notwendig sind. Bei der einen geht es darum, für ein be­stimmtes wirtschaftspolitisches Pro­blem verschiedene Lösungen aufzuzeigen. Was die Politik dann daraus macht, ist ihre Sache. Bei der anderen Art geht es darum, dass die Politik bereits konkrete Vorstellungen hat und vor allem Hilfe bei der Begründung und Umsetzung braucht. Meist haben Politiker Ideen, was sie machen wollen, weil sie auch mit ei­ner bestimmten Agenda gewählt worden sind. Deswegen finde ich es wichtig, die Rolle der Ökonomen innerhalb des Regierungsapparats zu stärken. Wir brauchen dort mehr Ökonomen. Das wäre auch für den Sachverständigenrat gut, weil er Sparringspartner hätte.

Ein in der Politik sehr umstrittenes Thema ist aktuell die Frage nach einem Gasembargo gegen Russland. Die Befürworter argumentieren, dass Deutschland nicht mit Geld für russisches Gas den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine finanzieren dürfe. Die Kritiker warnen vor dramatischen Folgen für die Wirtschaft, was am Ende Deutschland und Europa gegenüber Russland schwäche. Wie stehen Sie dazu?

Zunächst einmal: Wir müssen die Ukraine mit aller Macht unterstützen. Und wir müssen den Ländern im Baltikum den Rücken stärken. Dazu gehört, dass wir über genug Potenzial zur Abschreckung verfügen. Für diese Abschreckung ist eine starke militärische Position nötig. Deutschland ist derzeit militärisch aber schwach. Deshalb ist das geplante Sondervermögen Bundeswehr ein richtiger und wichtiger Schritt. Deutschland muss seine Wirtschaftskraft in angemessene militärische Verteidigungskapazitäten umsetzen, die es in die Nato einbringen kann. Zur Abschreckung gehört aber auch eine leistungsstarke Wirtschaft, die Möglichkeit, wirtschaftliche Härte zu zeigen. Auch da sind wir schwach, weil wir bei Öl und Gas von Russland abhängig sind. Diese Abhängigkeit von Russland müssen wir schnellstmöglich beenden.

Und erst dann kann es ein Gasembargo geben?

Ein Gasembargo ist eine Möglichkeit, das Budget von Russlands Präsident Wladimir Putin empfindlich zu treffen. Es wäre nicht das Ende der deutschen Industrie. Aber es würde wohl zu einer schweren Rezession in Deutschland führen, denn die Gasversorgung ist weitgehend Pipeline-gebunden. Das sollte man nicht kleinreden und nicht leichtfertig darüber hinweggehen. Im Übrigen könnte ein Ölembargo, das leichter umzusetzen ist, Russland derzeit womöglich mehr schaden als ein Gasembargo, weil bei Gas längerfristige Verträge bestehen und beim Öl kurzfristig mehr Geld zu verdienen ist. Trotzdem sollte alles getan werden, um ein Gasembargo als politisches Instrument einsetzen zu können. Im Übrigen muss man auch damit rechnen, dass Russland seinerseits den Gashahn zudreht. Das Beispiel Polen und Bulgarien ist da zweifellos eine Warnung. Umso wichtiger ist es, sich jetzt darauf vorzubereiten, noch in diesem Jahr. Dann aber bitte auch mit allen Konsequenzen.

Und das heißt?

Wir müssen die Energieversorgung unabhängig von russischen Importen sicherstellen. Dazu gehört etwa, die Laufzeiten für Kernkraftwerke zu verlängern und die kürzlich abgeschalteten Kernkraftwerke wieder ans Netz zu bringen. Wir brauchen zudem eine stärkere Verstromung von Braunkohle, die wir hier fördern können. Und wir können in Norddeutschland über Fracking selbst Erdgas fördern. Und nicht zuletzt gilt es, Regulierungen zu lockern, um den Ausbau von erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Es geht nicht darum, den Atomausstieg oder den Kohleausstieg oder den Klimaschutz aufzugeben. Aber jetzt ist Pragmatismus gefragt, um die nächsten drei, vier Winter gut zu überstehen. Jetzt darf es nicht nur darum gehen, was politisch opportun ist.

Eng verbunden mit dem Ukraine-Krieg und der Energiefrage ist ein zweites großes Thema dieser Tage – die sehr hohe Inflation. Der Krieg befeuert die schon lange sehr ho­he Inflation, im April lag sie nach EU-Berechnung bei 7,8%. Wie schlimm kommt es da noch? Drohen sogar zweistellige Inflationsraten?

Es ist absehbar, dass die Inflation in Deutschland noch auf absehbare Zeit sehr hoch sein wird. Dafür spricht auch der anhaltend starke Preisdruck auf den vorgelagerten Preisstufen. Für das nächste Jahr spricht aber einiges für wieder sinkende Inflationsraten, nicht zuletzt die üblichen Basiseffekte. Die Inflation wird aber höher sein als in den Jahren vor Corona. Viele Güter sind knapp, die Löhne steigen. Wenn sich jetzt der Krieg verschärft und es zu einem Gaslieferstopp und einer Energiekrise kommt, sind aber auch zweistellige Inflationsraten nicht auszuschließen. Umso wichtiger ist, dass die EZB endlich entschlossener handelt. Es ist für mich unverständlich, warum sie bei Inflationsraten von 7% und mehr an Null- und Negativzinsen festhält.

Lassen Sie uns zunächst noch bei der deutschen Politik bleiben, be­vor wir zur Europäischen Zentralbank (EZB) und zur Geldpolitik kommen. Die Bundesregierung hat be­reits Maßnahmenpakete auf den Weg gebracht, um Verbraucher und Haushalte von den rasant ge­stiegenen Energiekosten zu entlasten. Sollte sie jetzt noch mehr tun?

Als Sachverständigenrat plädieren wir schon lange für eine Abschaffung der EEG-Umlage. Wir befürworten ebenfalls schon seit Jahren eine Senkung der Stromsteuer, auch aus Klimaschutzgründen. Zudem würden alle genannten Maßnahmen, Energie aus anderen Quellen bereitzustellen, helfen, einen weiteren Anstieg der Energiepreise und damit der Inflation zu verhindern oder zumindest zu bremsen. Was weitere Entlastungen betrifft, muss man sehr genau prüfen, wer wirklich schwer betroffen ist und wer tatsächlich mit höheren Preisen konfrontiert ist. So haben viele Unternehmen und Haushalte längerfristige Verträge. Von Maßnahmen wie allgemeinen Tankrabatten halte ich wenig. Die fiskalische Gießkanne hilft nicht, weil die höheren Kosten für Energieimporte die Volkswirtschaft insgesamt treffen. Diese Transfers müssen finanziert werden – entweder über höhere Steuern heute oder mehr Schulden, und damit höhere Steuern oder Inflation in der Zukunft.

In den Krisen der vergangenen Jahre waren stets höhere Schulden das Rezept. Das gilt auch jetzt wieder, was auch zu einer Debatte über die Schuldenbremse geführt hat. Stirbt die Schuldenbremse gerade bereits einen leisen Tod?

Es ist wichtig, dass wir die Schuldenbremse haben, und ich sehe auch keinen dringenden Reformbedarf. Im Gegenteil: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die generelle Ausnahme für Notlagen gut funktioniert. Grundsätzlich braucht es mittel- und langfristig eine solide Fiskalpolitik. Die Schuldenbremse hilft gegen die Neigung von Regierungen, Probleme immer nur mit mehr Schulden lösen zu wollen. Es ist übrigens zu früh, jetzt schon die Schuldenbremse für 2023 aussetzen zu wollen. Es kann zwar bei einer Rezession wegen des Ukraine-Krieges notwendig werden, aber die steht noch nicht fest. Jedenfalls hätten die Nachwirkungen der Corona-Pandemie allein dieses Jahr nicht unbedingt eine Ausnahme erfordert, und sicherlich nicht nächstes Jahr.

Auf europäischer Ebene wird jetzt über eine Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts diskutiert und auch dort gibt es Vorschläge, mehr Ausgaben auszunehmen und damit letztlich mehr Schulden zu ermöglichen.

Ich halte nichts davon, die europäischen Fiskalregeln in einer Weise zu reformieren, dass sie noch weiter ge­lockert werden. Es gibt schon jetzt zu viele Ausnahmen. Nötig wäre das Gegenteil: Die EU-Fiskalregeln müssen wieder stärker greifen und konsequenter umgesetzt werden. Schon vor der Coronakrise war etwa in Frankreich zu beobachten, dass trotz deutlicher wirtschaftlicher Erholung und guten Wachstums die Schuldenquote immer weiter angestiegen ist, weil Probleme im Zweifel mit mehr Schulden gelöst werden. Das ist längst nicht mehr nur ein Problem Italiens. Wir sollten jetzt nicht durch eine Reform des Pakts den Fiskalregeln jeglichen Biss nehmen. Für Krisen wie die Corona-Pandemie bietet der Pakt schon jetzt genug Flexibilität.

Die hohen Schulden vieler Euro-Länder gelten vielen als Erklärung dafür, warum die EZB trotz Re­kordinflation zögerlich ist, aus der Null- und Negativzinspolitik auszusteigen. Ist die EZB be­reits in einem Regime fiskalischer Dominanz gefangen, in dem die Solidität der Staaten wichtiger ist als die Sicherung der Preisstabilität?

Man kann trefflich über die Beweggründe der EZB streiten. Fakt ist, dass die Inflation weit über das Ziel hinaus angestiegen ist. Die EZB hat viel zu lange gewartet. Wenn jemand Anfang 2021 behauptet hätte, dass die EZB selbst dann an Null- und Negativzinsen festhält, wenn die Inflation im Euroraum auf mehr als 7% steigt, wäre das wohl als absurde EZB-Kritik bezeichnet worden. Aber jetzt sind wir genau in der Situation.

Die EZB rechtfertigt sich nicht zu­letzt damit, dass viele Inflationstreiber auf exogene Faktoren zu­­rückgehen, allen voran der Energiepreisanstieg, und dass eine Straffung der Geldpolitik dem Angebotsschock noch einen Nachfrageschock hinzufügen würde.

Die EZB kann natürlich kein Erdöl fördern, um den Ölpreis zu senken, und sie kann auch nicht per Fracking Erdgas fördern, um die Gaspreise zu senken. Aber sie hat einen sehr starken Einfluss auf die Inflationserwartungen und darauf, inwieweit auch andere Preise in der Wirtschaft steigen. Im Euroraum gibt es längst einen breiteren Inflationsanstieg. Die Geldpolitik ist aber immer noch völlig auf Stimulierung der Wirtschaft ausgerichtet. Bei mehr als 7% Inflation und Null- und Negativzinsen liegt der reale Zinssatz weit im negativen Bereich. Diese EZB-Politik passt nicht mehr in die Zeit.

Und Sorgen, dass Zinserhöhungen die Euro-Konjunktur abwürgen könnten, zumal in Zeiten großer Unsicherheit wegen des Ukraine-Kriegs, sind überzogen?

Im aktuellen Umfeld macht es meines Erachtens kaum einen Unterschied, ob der EZB-Zins bei −0,5% oder bei +0,5% liegt. In beiden Szenarien bleibt die Geldpolitik sehr expansiv. Es spricht also nichts da­gegen, zumindest den Negativzins schnellstmöglich hinter sich zu lassen. Selbst wenn die Inflation im nächsten Jahr „nur“ noch bei 3% liegen sollte, wäre der reale Zins immer noch deutlich negativ. Er läge damit immer noch weit unterhalb aller realistischen Schätzungen für den Gleichgewichtszins. Die EZB sollte deshalb rasch ihre Anleihekäufe komplett einstellen und mit Zinserhöhungen beginnen. Die EZB sollte sich da durchaus ein Vorbild an der Fed nehmen: Die Fed hat die Inflation zwar auch zu lange verharmlost. Aber jetzt steuert sie entschlossener dagegen. Das ist absolut notwendig.

Und die Euro-Staaten könnten steigende Zinsen verkraften?

Verschiedene EZB-Ratsmitglieder ha­ben davon gesprochen, dass ein neutrales Niveau für den Leitzins bei rund 1,5% liegen dürfte. Das wäre auch für hoch verschuldete Euro-Staaten leicht verkraftbar. Die Mitgliedstaaten haben sich zunehmend langfristig verschuldet, und zwar zu deutlich niedrigeren Zinsen als vor der Euro-Schuldenkrise. Die Normalisierung der Geldpolitik würde demnach die Zinskosten der Staaten kaum erhöhen. Ob eine Anhebung auf 1,5% reicht, um die Inflation zu senken, ist aber zweifelhaft. Die EZB muss ihren Leitzins womöglich stärker anheben, um die Inflation zu drücken. Aber weniger Inflation würde helfen, die längerfristigen Zinsen moderat zu halten, weil die Investoren dann weniger Inflationsprämie verlangen würden.

Im EZB-Rat gibt es aktuell Diskussionen, bei einem Ende der Anleihekäufe ein neues Programm aufzulegen, das jederzeit genutzt werden könnte, um als exzessiv angesehene Zinsabstände (Spreads) zwischen den Renditen von Staatsanleihen verschiedener Euro-Länder zu vermeiden. Was halten Sie davon?

Die EZB braucht kein neues Programm. In einer akuten Krise mit großer Unsicherheit können Interventionen am Staatsanleihenmarkt notwendig sein. Die EZB sollte sich aber davor hüten, in normalen Zeiten die Risikoprämien und -spreads kontrollieren und steuern zu wollen. Im Notfall gibt es dafür das Staatsanleihekaufprogramm OMT. Das schmeckt vielen Politikern nicht, weil die Hilfen an Bedingungen wie Reformen geknüpft sind. Aber ohne Bedingungen kann und darf es solche Hilfen nicht geben.

Das Interview führte

BZ+
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