Frankfurt

Aktienanalyse morgens in der Bäckerei

Neugierige Menschen mussten früher ihre Ohren spitzen, wenn sie morgens in der Bäckerei heimlich mithören wollten, was sich die Menschen um sie herum zu erzählen hatten. In der Pandemie ist bekanntlich alles anders. Das gilt auch für das...

Aktienanalyse morgens in der Bäckerei

Neugierige Menschen mussten früher ihre Ohren spitzen, wenn sie morgens in der Bäckerei heimlich mithören wollten, was sich die Menschen um sie herum zu erzählen hatten. In der Pandemie ist bekanntlich alles anders. Das gilt auch für das Belauschen der Nachbarn. Denn seit sich die Kunden mit Abstand vor der Bäckerei anstellen, müssen alle schreien statt tuscheln. Ob man will oder nicht – in Covid-Zeiten kriegt man mit, was die Mitmenschen so umtreibt.

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Top-Thema ist natürlich die Pandemie. Dort, wo Menschen in diesen Tagen zusammenkommen, wird über Inzidenzwerte, Kontaktbeschränkungen und Impf-Nebenwirkungen gefachsimpelt. Zu den unverzichtbaren Bestandteilen des alltäglichen Small Talks zählt zudem – zumindest in Frankfurt, wo die Eintracht derzeit ja einen Lauf hat – die Analyse der Bundesligaergebnisse. Und natürlich die Entrüstung über die Pläne für eine Superliga – umso mehr, wenn daran zwar Juve und die Spurs teilnehmen sollten, aber nicht die Eintracht.

Daneben feiert beim Schwätzchen im Freien derzeit noch ein drittes Thema fröhliche Urständ: die Hausse an den Aktienmärkten. Schließlich gibt es in Deutschland ja nicht nur 83 Millionen Epidemiologen und 83 Millionen Fußballexperten, sondern auch 83 Millionen Aktienanalysten.

„Gude, wie geht’s?“ „Na, bestens, mein Lieber, wo doch Biontech gerade abzischt wie eine Rakete.“ Dieses kleine Gesprächsprotokoll neulich im Nordend deutet an, dass die freundliche Entwicklung der Aktienkurse dafür sorgt, dass im Alltag wieder mehr über Wertpapiere gesprochen wird. Erstens, weil Menschen im Jahr des täglich grüßenden Murmeltiers ohnehin nicht mehr viel erleben, über das sie sich austauschen können. Zweitens, weil die Aktienrallye in diesen unwirtlichen Zeiten hilft, trotz allem zuversichtlich zu bleiben. Getreu dem Motto: Wenn sich die Aktienprofis sicher sind, dass es aufwärtsgeht, wird bestimmt alles gut – irgendwann. Und drittens, weil die Zahl der Aktionäre bekanntermaßen im vorigen Jahr um 28% in die Höhe geschossen ist.

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Erfreulicherweise findet das wiedererwachte Interesse an Aktien einen anderen Ausdruck als zu Zeiten von T-Aktie und Neuem Markt. Noch allzu gut in Erinnerung sind die Angebertypen, die damals damit prahlten, ihren neuen Sportwagen habe „EM.TV bezahlt“. Oder die Partyplauderer, die sich als Börsenprofis aufspielten, aber peinlicherweise über Infinitiv und Morphysos schwadronierten, wenn sie Infineon und Morphosys meinten.

Nein, der Aktionär dieser Tage tritt uns morgens in der Warteschlange der Bäckerei nicht als großmäuliger Outperformer entgegen, zumal der zwischenzeitliche Kurseinbruch vor einem Jahr Demut gelehrt hat. Und er ist längst nicht mehr so blauäugig wie vor einem Vierteljahrhundert, als viele den Xetra-Dax noch für eine Spezies aus der Familie der Marder gehalten haben.