Aufklärer oder schon Aktivisten?
Im Blickfeld: Zukunft der Ökonomie
Aufklärer oder Aktivisten?
Die Wirtschaftsweisen auf der Suche nach ihrem neuen Platz in der Ökonomenwelt – Soziale Medien und der Wettbewerb verändern das Umfeld der Politikflüsterer und die Wissenschaftsstruktur insgesamt hin zu mehr Entertainment.
Von Stephan Lorz, Frankfurt
Die digitalen Veränderungen des öffentlichen Raumes und der Wettbewerb der Ökonomen stürzt manche Institutionen wie jene der Wirtschaftsweisen in die Existenzkrise, andere Institute und Promi-Ökonomen wachsen hingegen zu einflussreichen Politikflüsterern heran, welche die Berliner Narrative mitbestimmen. Die Wirtschaftswissenschaft muss gleichwohl um ihre Reputation bangen, weil sie immer mehr zu einer Marketingmaschine wird.
Im Sachverständigenrat Wirtschaft hängt der Haussegen schief – und alle bekommen es mit: Die Chefin des Gremiums, Monika Schnitzer, kommt offenbar nicht mit ihrer Kollegin Veronika Grimm klar. Auch die anderen Mitglieder stehen dieser skeptisch gegenüber, seit sie im Februar 2024 in den Aufsichtsrat von Siemens Energy gewählt worden war. Ihre Kollegen sehen darin einen Interessenkonflikt, beschäftigen sie sich in ihren Gutachten doch auch mit Energiepolitik. Dass Grimm beides voneinander trennen kann, bezweifeln sie.
Das Zerwürfnis scheint komplett, nachdem Grimm im neuesten Gutachten nun sogar gleich mehrere Minderheitsvoten abgegeben hat. Die allermeisten Positionen des Rates teilt sie zwar, doch hält sie diese oft nicht in letzter Konsequenz für durchargumentiert und an einigen Stellen für unvollständig. Das beschädigt natürlich das Bild, das der Rat gerne von sich in der Öffentlichkeit abgeben will: fünf Wirtschaftsweise, quasi den Goldstandard in der deutschen Ökonomenzunft vertretend – unabhängig, untadelig, umfassend, einhellig.
Bofingers Minderheitsvoten
In der vielstimmigen Welt der Wirtschaftswissenschaft ist das ein Wert an sich – und durchaus ein Alleinstellungsmerkmal, das der Rat gut brauchen kann. Denn aktuell muss er um seinen Einfluss und seine Rolle in der Öffentlichkeit sowie der Politik kämpfen. Auch deshalb wird Grimm so „gedisst“, wie Jugendliche ihre Ausgrenzung wohl bezeichnen würden. Früher wurden Minderheitsvoten noch eher als intellektuelle Herausforderung betrachtet. Der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger, zwischen 2004 und 2019 im Gremium, war etwa bekannt dafür, die Kollegen auf diese Weise mit dem keynesianischen Stachel zu löcken.
Damals aber war die Position des Sachverständigenrats noch weitgehend unstreitig, ein Aushängeschild der Zunft. Doch schon damals waren eine ganze Reihe von ökonomischen Einzelkämpfern unterwegs, die weniger sperrig sind und schneller das Ohr der Politik bekommen. Lars Feld etwa, der bis vor kurzem engster ökonomischer Berater des früheren Finanzministers Christian Lindner war. Man denke auch an „Großökonomen“ wie den früheren Ifo-Chef Hans-Werner Sinn oder den ökonomischen Sozialingenieur Bert Rürup. Letzterer drückte der Sozialpolitik sogar mit der „Rürup-Rente“ seinen Stempel auf. Feld und Rürup aber einte immerhin: Sie waren einmal Teil der Wirtschaftsweisen, zehrten von ihrem Einfluss und fühlen sich auch danach noch seinen Werten verpflichtet.
Projekt Sondervermögen
Viel stärker geworden sind in der Zwischenzeit indes die vielen Institutschefs. Beinahe täglich äußern sie sich in den (digitalen) Medien, vermarkten ihre Studienergebnisse, geben Kommentare ab und treten bisweilen auch konzertiert auf. Zuletzt etwa mit dem Vorschlag eines Multi-Milliarden-Sondervermögens für Infrastruktur und Verteidigung durch Clemens Fuest (Präsident des Ifo Instituts), Michael Hüther (Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft), Moritz Schularick (Präsident des Kieler IfW) und dem Düsseldorfer Ökonomen Jens Südekum. Es ist schon beeindruckend, wie der Verschuldungsvorschlag nach und nach unter Sekundieren des mächtigen Industrieverbands BDI Eingang gefunden hat in die praktische Politik.
Auch der Sachverständigenrat hatte in der Vergangenheit zahlreiche konkrete Vorstöße gemacht, die von der Politik aufgegriffen oder mitvollzogen wurden: Konzertierte Aktion und Globalsteuerung Ende der 60er-Jahre, Forderung nach Aufwertung der D-Mark 1969, Wechsel zur Angebotspolitik Mitte der 70er-Jahre, Konzept für eine Währungsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung, und Vorschläge zur Ausgestaltung einer Schuldenbremse, wiewohl auch später Vorschläge zur Reform der selbigen.
Stakkato an Meinungen
Doch das war einmal. Die Medienwelt hat sich zwischenzeitlich gewandelt – alles wurde schneller, digitaler und zugespitzter – und spielt den Instituten mit ihren Kommunikationsapparaten direkt in die Hände. Hier kann der Rat schon rein organisatorisch nicht mithalten. Er bräuchte ein strukturelles und organisatorisches Update, einen neuen Auftrag – oder man ersetzt diesen gleich durch die schon existente Arbeitsgemeinschaft der Wirtschaftsforschungsinstitute, die regelmäßig ähnliche Gutachten veröffentlicht und zudem auf einen größeren Mitarbeiterstab zurückgreifen kann.
Aktuell machen sie es sich mit ihrem Stakkato an Einzelprognosen, Gemeinschaftsdiagnosen, Fallstudien und Abschätzungen zu allerlei mehr oder weniger ökonomischen Sachverhalten aber selber schwer. Viele bereits seit Jahren laufenden Umfragen und Studien erhalten Spezial-Updates, werden in Einzelsegmenten aufgespalten, separat vermarktet und der Öffentlichkeit präsentiert. Oft gemeinsam mit Verbänden oder anderen Institutionen. Die Inflation an Pressemitteilungen, LinkedIn-Posts, X-Tweets und Talkshow-Auftritten erinnert an einen industriellen Prozess und kann insofern auch zum Reputationsrisiko werden, weil Vielfalt und Masse das Gefühl der Beliebigkeit aufkommen lässt.
Das sät zudem Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Expertise. Zumal die in den Instituten laufenden ökonomischen Modelle gerne zu allen möglichen Problemen befragt werden. Heraus kommt oft eine hypergenaue Wachstumszahl, ein exakter Geldbetrag, eine auf die Nachkommastelle errechnete Produktivitätsziffer – und die Verschuldungswirkungen werden bis in die nächsten Jahrzehnte hinein abgeschätzt. Hybris oder Argumentationsverstärkung?
Suggerierte Genauigkeit
Dabei kommt den Ökonomen im Gegensatz zu vielen anderen Sozialwissenschaften entgegen, dass sie frühzeitig massenweise Daten gesammelt haben und verarbeiten können. Diese lassen sich obendrein gut verbreiten, suggerieren Exaktheit und Wissenschaftlichkeit – und münden meist in überzeugenden Grafiken. Das hilft dann bei der medialen Verbreitung zusätzlich. Inwieweit es sich nur um Wahrscheinlichkeiten oder Bandbreiten handelt, und welche Annahmen vorab gemacht werden mussten, kümmert wohl die wenigsten.
Ökonomie wird insofern immer mehr zum smarten intellektuellen „Entertainment“, was dem Ansehen der Einzelpersonen sowie den von ihnen vertretenen Instituten nützt, in politischen Auseinandersetzungen gut handhabbar ist – und den Wissenschaftlern natürlich auch neue Studienaufträge und Drittmittel sichert. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Grundfinanzierung der meisten Institute hat das natürlich seine Grenzen. Zugleich ist die Frage zu stellen, was denn die bei der Bundesregierung und im Bundestag angesiedelten Beiräte oder wissenschaftliche Dienste eigentlich noch machen. Können sie sich der politökonomischen Fragestellungen nicht ebenfalls annehmen? Und warum nicht gleich auf eine echte privatwirtschaftliche Alternative zurückgreifen? Große Expertise ist schließlich auch bei Banken- und Unternehmensvolkswirten abzurufen.
Gefahr für die Reputation
Zudem ist zu fragen, wie weit die ökonomische Wertschöpfungskette wohl noch ausgewalzt werden kann, ohne dass die Wissenschaft selber Schaden nimmt. Vor diesem Hintergrund ist die Aufregung, die sich unter den Wirtschaftsweisen wegen des Zwists mit Grimm breitmacht, schon wieder verständlich. Denn eine Institution wie der Rat, der unabhängig und neutral sein soll, ist Kontrapunkt und verlässliche Quelle zugleich in der Vielfalt ökonomischer Meinungen. Zudem ist er stets darauf bedacht, nicht einzelne Punkte in den Vordergrund zu rücken, sondern die großen Bögen zu spannen, was heute zu kurz kommt. Und er folgt einer eigenen Agenda!
Niklas Gernadt, bis Ende 2024 Generalsekretär der Wirtschaftsweisen, sagte unlängst: „Wer immer eindeutige Empfehlungen will, muss Unternehmensberater fragen“. Vielleicht füllen die Marketing-Ökonomen inzwischen ja diese Rolle aus. Angesichts der viel schrilleren Töne aus Parteien, Verbänden, NGOs und Beratungsunternehmen kommt dann ihre Art der eher faktenbasierten Argumentation durchaus wohltuend rüber und versachlicht eher den Diskurs. Sie haben nur ihre Rolle gewechselt.