Europawahl 2024Ehemaliges heimliches Machtzentrum

Der EU-Währungsausschuss hat seinen Nimbus verloren

Der Wirtschafts- und Währungsausschuss galt lange Zeit als wichtigster und einflussreichster Ort des EU-Parlaments. Diesen Nimbus hat der Econ verloren. Kann die nächste Generation an Finanzpolitikern dies wieder ändern?

Der EU-Währungsausschuss hat seinen Nimbus verloren

Der EU-Währungsausschuss hat seinen Nimbus verloren

Von Andreas Heitker, Berlin, und Detlef Fechtner, Brüssel

Über viele Jahre hinweg galt er als heimliches Machtzentrum des EU-Parlaments: der Wirtschafts- und Währungsausschuss. Die Mitgliedschaft im „Econ“, wie das Gremium im Brüsseler Kauderwelsch genannt wird, war heiß begehrt – unter den Parteien und unter den Abgeordneten. Denn nach der Finanzkrise spielte hier die Musik: Das „financial repair“ wurde hier gestaltet. Die Aufmerksamkeit nicht nur der Banken, sondern auch des breiten Publikums war dem Econ nach Lehman-Pleite und Griechenland-Krise viele Jahre lang sicher.

Die Zeiten von Mr. Mifid und Mr. Solvency II im Econ

Und: Wer sich im Ausschuss Einfluss und Respekt verschaffen wollte, war gut beraten, ein zentrales Dossier federführend als Berichterstatter zu übernehmen. Viele deutsche EU-Abgeordnete haben sich damals einen Namen gemacht, beispielsweise „Mr. Mifid“ Markus Ferber (CSU) oder „Mr. Solvency II“ Burkhard Balz (CDU). Viele von denen, die insbesondere von 2009 bis 2019 engagiert versucht haben, der Finanzmarktregulierung ihren Stempel aufzudrücken, sitzen heute in Deutschland an wichtigen Schaltstellen der Finanz- und Geldpolitik: Sven Giegold (Grüne) als Wirtschaftsstaatssekretär, Jakob von Weizsäcker (SPD) als Finanzminister im Saarland, Michael Theurer (FDP) als Verkehrsstaatssekretär und demnächst als Bundesbank-Vorstand – und eben Balz, ebenfalls als Vorstandsmitglied der Bundesbank. Daneben gewannen Fabio De Masi (Linke) als Wirecard-Aufklärer und Peter Simon (SPD) als Geschäftsführer des Weltsparkasseninstituts an Bekanntheit.

Die politische Agenda im EU-Parlament setzen mittlerweile andere

Den Nimbus als wichtigster Ausschuss des EU-Parlaments hat der Econ mittlerweile jedoch eingebüßt. So wie die Finanzmarktpolitik auf der politischen Agenda von außen-, sicherheits- und gesundheitspolitischen Themen überholt wurde, so geriet zuletzt auch der Econ aus dem Blick der Öffentlichkeit. Die CDU-Europaabgeordneten Ralf Seekatz und Stefan Berger stehen, wenn es nicht gerade um den digitalen Euro geht, weniger stark im Rampenlicht als ihre Vorgänger. Gleiches galt für den Sozialdemokraten Joachim Schuster. Und auch der Grüne Rasmus Andresen arbeitet sich erst nach und nach, was Einfluss und Gestaltungskraft angeht, an seinen Vorgänger Giegold heran. Die FDP verzichtete in der jetzt ablaufenden Legislaturperiode sogar gleich komplett darauf, ein Vollmitglied in den Ausschuss zu entsenden und überließ ihren Platz Engin Eroglu von den Freien Wählern.

Der AfD-Politiker Gunnar Beck hat im Wesentlichen nur durch seine – mehr als fragwürdige – Behauptung für Schlagzeilen gesorgt, ihm sei es zu verdanken, dass Frankfurt den Zuschlag für die EU-Anti-Geldwäsche-Behörde erhalten habe. Einzig Markus Ferber wird nach wie vor als Aktivposten wahrgenommen und findet ständig in der öffentlichen Berichterstattung statt, zumal er auch Sprecher der christdemokratischen Parteienfamilie im Währungsausschuss ist. Zu den spannenden Fragen der anstehenden Europawahl zählt, ob sich am Bedeutungsverlust des Econ wieder etwas ändern könnte.

Ferber, Repasi und Andresen bleiben im Fokus

Klar ist, sofern es keine Überraschungen am Wahltag gibt und die CSU mindestens fünf Sitze holt, dass der 59 Jahre alte Ferber wieder dem Econ angehören wird. Mit seiner 30-jährigen Erfahrung im EU-Parlament zählt er zu den festen Größen und verfügt entsprechend über Einfluss und Erfahrung. Der 54-jährige Berger kandidiert auf Platz 6 der CDU-Liste in NRW – das ist aussichtsreich, aber nicht 100% sicher. Bei den Sozialdemokraten könnte René Repasi (44) in den nächsten fünf Jahren an finanzpolitischer Bedeutung gewinnen. Der habilitierte Jurist ist seit März Vorstand der SPD-Gruppe in der sozialdemokratischen EU-Parteienfamilie – und ist bereits mit klaren Meinungen und engagierten Äußerungen zu finanzpolitischen Streitthemen wie dem Provisionsverbot aufgefallen. Gut möglich, dass er seinen Parteifreund Schuster beerbt.

De Masi vor einem Comeback

Ein kluger Kopf der Grünen ist der Niederländer Bas Eickhout, der schon seit einigen Jahren auf den Listen der einflussreichsten Europaabgeordneten auftaucht – wenn auch eher in der Klima- und der Verkehrspolitik als im Finanzbereich. Eickhout ist zusammen mit Terry Reintke das grüne Spitzenduo für die Wahl. Bei dem ersten Spitzenkandidaten-Duell Ende April galt der 48-Jährige bei vielen als der große Gewinner und rhetorisch überzeugendste Kandidat, was unter anderem an seinen Wortduellen mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lag. Aber die Grünen haben wohl auch künftig noch Andresen im Econ-Ausschuss. Der 38-Jährige, der sich selbst zum linken Flügel der Partei rechnet, glaubt an eine starke Regulierung und war zuletzt unter anderem Berichterstatter für die Eigenmittelvorschläge der Kommission.

Viele wichtige Anhörungen finden weiterhin im Econ statt: Hier stellt sich EZB-Präsidentin Christine Lagarde den Fragen der Abgeordneten. Neben ihr Irene Tinagli, die Ausschuss-Vorsitzende. (Foto: picture alliance / Anadolu | Dursun Aydemir)

Sehr wahrscheinlich dürfte es im neuen EU-Parlament ein Comeback von Fabio De Masi im Econ geben. Der Deutsch-Italiener tritt mittlerweile nicht mehr für die Linken, sondern für das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) an und ist bei der EU-Wahl neben Thomas Geisel der Spitzenkandidat des BSW. De Masis politische Karriere hatte 2014 im Econ an Fahrt aufgenommen, bevor er 2017 in den Bundestag nach Berlin gewechselt war. Der 43-Jährige sagt nun selbst, seine Kandidatur sei ein „zurück in die Zukunft“.

De Masis Nachfolger im EU-Parlament, Martin Schirdewan, mischte zuletzt als stellvertretendes Mitglied im Econ mit – soweit es sein Amt als Parteichef der Linken überhaupt noch zulässt. Schirdewan kommt aus einer sehr politischen Familie: Sein Großvater Karl Schirdewan, ein Kommunist, der das KZ überlebt hatte, galt in den 1950er Jahren eine Zeit lang als zweiter Mann in der DDR hinter Walter Ulbricht. Nachdem seine Tochter Rosemarie 1990 für die PDS in die Volkskammer der untergehenden DDR eingezogen war, ist es jetzt am Enkel, Politik mitzugestalten. Sich selbst beschreibt Schirdewan als einen „pragmatischen Visionär“.

Die größten Fragezeichen stehen schließlich hinter der Besetzung der FDP für den Währungsausschuss. Noch ist nicht absehbar, ob die Partei abermals Eroglu von den Freien Wählern den Vortritt lässt.

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