LeitartikelTrotz milliardenschwerer Investitionen

Big Tech scheitert mit KI-Projekten an der Praxis

Investoren müssen sich gut überlegen, ob sie weiter Milliarden in KI-Projekte des Silicon Valley pumpen sollten. Denn diese werfen kaum mehr ab als realitätsferne Spielereien.

Big Tech scheitert mit KI-Projekten an der Praxis

Big Tech

KI-Projekte scheitern an der Praxis

Investoren müssen ihre Milliarden-Investitionen in KI überdenken. Denn diese produzieren bisher zu wenig realwirtschaftlichen Nutzen.

Von Alex Wehnert

Der Kapitalmarkt muss die Narrative von Amerikas Technologieriesen rund um künstliche Intelligenz dringend wieder stärker hinterfragen. Denn die schwersten Konzerne des US-Aktienmarkts führen derzeit Ergebnisse ihrer Forschung und Entwicklung vor, die zeigen sollen, dass ihre Milliardeninvestitionen in die Zukunftstechnologie sinnvoll angelegtes Geld sind. Doch bei genauerem Blick nehmen sich viele Initiativen zunehmend verzweifelt aus.

Auf dem Weg zur „medizinischen Superintelligenz“

Microsoft hat zuletzt mit dem Gebaren eines Weihnachtsmanns, der ein besonders dickes Geschenk aus seinem Beutel zieht, den neuen „AI Diagnostic Orchestrator“ vorgestellt. Dieser ist das erste konkrete Projekt, das aus einer neuen Gesundheitseinheit des Konzerns aus Redmond hervorgeht und einen Meilenstein auf dem Weg zu einer „medizinischen Superintelligenz“ bedeuten soll. Das neue System stützt sich auf ein Panel aus fünf virtuellen „Ärzten“, die miteinander interagieren und debattieren sollen, um komplexe Krankheiten diagnostizieren zu können.

Microsoft hat den „Orchestrator“ an über 300 im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichten Patientenstudien und auf Basis verschiedener großer Sprachmodellen getestet. Angeblich kommt es in Zusammenspiel mit dem OpenAI-Programm o3 in mehr als 85% der untersuchten Fälle zur korrekten Diagnose. Menschliche Ärzte, die ebenso wie das KI-Modell die Möglichkeit hatten, den digitalisierten Patienten zu befragen und Tests anzufordern, hätten dabei nur zu 20% den vom Fachjournal aus Massachusetts festgelegten Goldstandard getroffen. Allerdings hatten sie im Gegensatz zur KI auch nicht die Möglichkeit, in Lehrbüchern nachzuschlagen oder Kollegen zu Rate zu ziehen.

Unfairer Vergleich

Der Vergleich ist damit nicht nur unfair. Er beinhaltet auch eine Verzerrung, die zahlreichen Wettbewerben zwischen Mensch und KI inhärent ist. Denn die Technologie glänzt unter Laborbedingungen, die in realen Umgebungen nicht gegeben sind. Ärzte müssen im personell stark angespannten US-Gesundheitssystem innerhalb von Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung treffen und sich dabei auf ihren Instinkt verlassen. Eine Chirurgin, die am Vormittag erfolgreich drei Operationen in der Gynäkologie abschließt und am Nachmittag 20 Sprechstundentermine zur Geburtshilfe abarbeiten muss, mag keine Zeit haben, zwecks Problemdiagnostik landesweite Datenbanken zu durchforsten. Sie kennt ihre Patientinnen aber besser, als es die KI je könnte, kann emotionale Reaktionen im persönlichen Gespräch deuten und Kollegen auf Zuruf konsultieren.

All das soll nicht heißen, dass das Gesundheitswesen seinen technologischen Standard nicht weiterentwickeln muss. Neue Systeme, auch auf Basis künstlicher Intelligenz, können als Hilfsmittel Zeitersparnis und damit wichtige Entlastung bringen. Doch die Aussage, der neue KI-Orchestrator sei bei der Diagnose mehr als viermal erfolgreicher als der Mensch, dürfte in der Praxis kaum zu halten sein. Sie entstammt dem Druck, sichtbare Resultate der KI-Kapitalaufwendungen zu liefern – insbesondere, nachdem die chinesische Deepseek bereits aufgezeigt hat, dass sich eine ähnliche Performance wie jene der Modelle von OpenAI und Konsorten deutlich günstiger erzielen lässt.

Menschliche Intuition entscheidend

Microsoft-CEO Satya Nadella und Tech-Bros um Mustafa Suleyman – den Gründer von Deepmind, der inzwischen die KI-Bemühungen des Windows-Konzerns lenkt – müssen jedoch eines anerkennen: Menschliche Intuition und Interaktion sind in der echten Welt ein nicht zu unterschätzender Faktor, den Technologie nie ersetzen kann. Dies gilt nicht nur für die Medizin, sondern für sämtliche Sektoren, in denen KI zum Einsatz kommen soll. Die Nerds des Silicon Valley, die den Mensch kaum als soziales Tier begreifen, besitzen dafür nur begrenztes Verständnis. Investoren sollten sich daher gut überlegen, ob sie dem Marketing-Stempel KI weiter blind vertrauen wollen. Denn kommt bei den mit großem Pomp aufgesetzten Projekten von Big Tech nicht mehr heraus als die bisherigen praxisfernen Spielereien, dann sind die aufgewendeten Milliardenmittel tatsächlich verschwendet.

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