Leitartikel China-Konjunktur

Chinas rätselhafte Investitionsdelle

In China bröckeln die Anlageinvestitionen ab wie noch nie. Damit stellt sich die Frage, ob Peking die Kontrolle über einen entscheidenden Wachstumstreiber verloren hat.

Chinas rätselhafte Investitionsdelle

China

Rätselhafte Investitionsdelle

In China bröckeln die Anlageinvestitionen ab wie noch nie. Das wirft neue Fragen zum Wachstumsmodell auf.

Mit den frischen Konjunkturdaten für Oktober wächst das Erstaunen über stark nachlassende Wachstumstreiber in China. Dafür, dass die Produktion weniger stramm vorwärtskommt, und die sowieso schon schwache Konsumdynamik weiter abflaut, gibt es gute Erklärungen. Schwieriger wird es beim Blick auf das Fixed Asset Investment. Die zuverlässige Wachstumslokomotive im von Export und Investitionen geleiteten chinesischen Wirtschaftsmodell scheint regelrecht entgleist zu sein.

Novum für China

Seit Jahresmitte bröckeln die Sachinvestitionen jeden Monat immer stärker ab. Mittlerweile steht für die Periode Januar bis Oktober ein Minus von 1,7% zu Buche. In westlichen Volkswirtschaften wäre das keine sonderlich auffällige Entwicklung, für China ist das jedoch ein absolutes Novum. Mit Ausnahme der Pandemiezeit wurde die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft absolut zuverlässig von mittleren bis hohen einstellige Zuwachsraten bei den Sachinvestitionen angekurbelt.

Das Statistikbüro vermittelt die Daten als Zeitreihe für das aufgelaufene Jahr. In den ersten Monaten betrug das Wachstum noch solide 4%, zur Jahresmitte nur noch 2%. Nach drei Quartalen sah man plötzlich ein Minus von 0,5%, jetzt sind es schon –1,7%. Das bedeutet zweistellige Rückgänge in zurückliegenden Einzelmonaten. Zum einen schrumpfen die privaten Investitionen im Immobilienmarkt noch stärker als zuvor. Zum anderen sieht man einen Knick im Fertigungsbereich. Erstaunlich ist aber, dass an der bewährten Stellschraube der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen derzeit nicht gedreht wird. Auch diese sind seit Jahresmitte regelrecht verkümmert.

Kampagne gegen Involution

Auf der Suche nach Erklärungen landet man bei der im Juni losgetretenen Kampagne zur Bekämpfung von Überkapazitäten und Eindämmung ruinöser Preiskämpfe (Involution) in einigen Branchen. Auf die scheint die Lokalregierungsebene mit einer Genehmigungsbremse für neue Investitionsprojekte reagiert zu haben. In der Vergangenheit haben die lokalen Beamten oft Angaben zu Projekten gepusht, um mit der Einhaltung von Wachstumsvorgaben für Wohlgefallen zu sorgen, also statistisch verzerrendes „Overreporting“ betrieben. Nun sieht man möglicherweise „Underreporting“, um beim Thema Involution gut dazustehen und die statistische Aufblähung der Vergangenheit wieder zu korrigieren.

Wackliges Wachstumsziel

Bislang wusste Peking die öffentlichen Investitionen im vierten Quartal passgerecht anzuschieben, um die offizielle Zielmarke für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von „etwa 5%“ noch sicher einzuhalten. In diesem Jahr wird es eng, je nachdem wie man „etwa“ auslegt. Die Konsensschätzung der Ökonomen liegt bei einem BIP-Anstieg von noch 4,9%. Das kann man als knappe Einhaltung des Wachstumsziels verstehen. Es würde aber bedeuten, dass sich die Parteiführung vom brennenden Ehrgeiz verabschiedet, die Fünf vor dem Komma irgendwie immer zu erreichen.

Einen Fingerzeig geben jüngst von Parteimedien transportierte Äußerungen des Staatspräsidenten. Er soll die eigentlich enttäuschende diesjährige Performance der größten Provinz Guangdong, die für rund 10% des chinesischen BIP aufkommt, als völlig in Ordnung bezeichnet haben. Dort lag das Wachstum in den ersten drei Quartalen bei 4,1% – ein auffälliger Abstand zum landesweiten BIP-Anstieg von 5,2%. Bei den Investitionen ist die Kluft noch wesentlich größer. Sie sanken im Zeitraum um 14% gegenüber Vorjahr.

Neue Wachstumsagenda?

Das demonstrativ verbreitete Placet von ganz oben wirft eine spannende Frage auf. Ist China im Anlauf zum Fünfjahresplan 2026-2030 tatsächlich bereit, sich vom Infrastruktur-Gebolze zu lösen, das den Wachstumsausweis schönt, aber die Wirtschaft an sich nicht voranbringt? Große Herausforderung ist die Stärkung der Haushaltseinkommen und der Faktorproduktivität. Sie korrelieren immer weniger mit dem optisch so stabilen BIP-Wachstum. Eine effizientere Mittelverwendung tut not, damit Chinas Wirtschaft trotz hässlicher Vier vor dem Komma tatsächlich besser dasteht.

Von Norbert Hellmann