Im BlickfeldDebatte um Zuwanderung

Das alternde Japan steckt im Migrationsdilemma

Japans Wirtschaft braucht dringend ausländische Arbeitskräfte, aber Politik und Gesellschaft lehnen die notwendige Zuwanderung ab.

Das alternde Japan steckt im Migrationsdilemma

Das alternde Japan steckt im Migrationsdilemma

Wirtschaft braucht dringend ausländische Arbeitskräfte, aber Politik und Gesellschaft lehnen die notwendige Zuwanderung strikt ab.

Von Martin Fritz, Tokio

In Deutschland wird das Wort „Gastarbeiter“ schon lange nicht mehr benutzt. Politik und Gesellschaft erwarten, dass ausländische Arbeitskräfte in Deutschland bleiben wollen, das Gesetz zur Regelung der Zuwanderung ist schon 20 Jahre alt. Damit reagiert die Politik auf die alternde und schrumpfende Gesellschaft – die Zahl der Einwohner mit deutschem Pass sinkt seit 2004. Dennoch wuchs seitdem die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 8,3 Millionen, wovon 46% ohne deutschen Pass waren.

Gastarbeiter statt Zuwanderer

Japans demografische Entwicklung sieht viel düsterer aus. Schon 1995 überschritt die Erwerbsbevölkerung (15-64 Jahre) als weltweit erstes Land ihren Höhepunkt, seit 2009 schrumpft auch die Gesamtbevölkerung. Doch die Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit Ende 2012 regiert, förderte höhere Erwerbsquoten von Frauen und Rentnern statt Ausländer zu holen. Erst als dieses Reservoir ausgeschöpft war, führte der damalige Premier Shinzo Abe im Jahr 2019 neue Arbeitsvisa ein, die bis zu 345.000 Ausländern den Weg zum dauerhaften Aufenthalt ebnen sollten. Das Wort „Einwanderung“ nahm Abe jedoch nicht in den Mund. Das Gesetz für Ausländer in Japan heißt wenig einladend „Immigrationskontroll- und Flüchtlingsanerkennungsgesetz“.

Dessen ungeachtet waren in den zehn Jahren seit 2015 Ausländer für 40% des Anstiegs der Erwerbsbevölkerung – 1,4 Mill. Arbeitskräfte – verantwortlich (s. Grafik). Beobachter sprachen von „stealth immigration“. Nach dem Ende der Pandemie erlebte Japan einen starken Zuzugsboom. Im Jahr 2024 kamen über 342.000 ausländische Arbeitskräfte nach Japan, doppelt so viele wie von der Regierung vorhergesagt. Dennoch meldeten Unternehmen aller Größen in den Tankan-Umfragen den stärksten Arbeitskräftemangel seit 35 Jahren. Im Jahr 2024 mussten auch so viele Firmen wie nie zuvor aufgeben, weil sie keine Arbeitskräfte finden konnten. Der ungedeckte Bedarf reicht von Pflegekräften über Busfahrer und Erntearbeiter bis zu Fensterputzern. Daraufhin erweiterte die Regierung das Arbeitsvisa-Programm von 12 auf 16 Branchen, 2027 kommen drei weitere dazu. Bis 2028 würden zusätzliche 820.000 ausländische Arbeitnehmer kommen.

Vormarsch der Rechtspopulisten

Doch in diesem Jahr drehte sich die politische Stimmung. Bei der Oberhauswahl im Juli machte die erst fünf Jahre alte Sanseito (Politische-Teilhabe-Partei) mit dem Slogan „Japaner zuerst“ Wahlkampf und steigerte die Zahl ihrer Abgeordneten von einem auf 15. Der Slogan griff die stark gestiegene Sensibilität der Bevölkerung für die Ausländerfrage auf, nachdem außer der Zahl der ausländischen Arbeitskräfte auch die Zahl der Touristen stark zunahm. Beiträge auf sozialen Medien über das schlechte Benehmen der Ausländer gingen viral. Große Tageszeitungen und Fernsehsender berichteten über Abfallberge, öffentliche Trinkgelage, mehr Verkehrsunfälle und kriminelle Handlungen, hohe Mieten und Hotelpreise sowie unbezahlte Arztrechnungen.

Dabei beträgt der Ausländeranteil in Japan nur niedrige 3,2% – in Deutschland sind es fast 17%. Aber die Vorsicht gegenüber Fremden sei „durch die ausgeprägte Einheitsidentität in Ethnie, Sprache und Geschichtsbewusstsein relativ stark“, meint der frühere Deutschland-Korrespondent der größten Zeitung Yomiuri, Norihide Miyoshi. Japan sei nicht fremdenfeindlich. „Ich würde eher von einem Schutzinstinkt sprechen, der die Ordnung vor Ort nicht gestört sehen will“, sagt Miyoshi. Der deutsche Japanologe Axel Klein ergänzt: „Wenn Japan, ein Land, in dem so viel ungeschriebene Gesetze das Miteinander regulieren, zu viele Leute reinlässt, dann fühlt sich keiner mehr wohl, weil plötzlich so viel Unsicherheiten im Alltagsleben entstehen.“

Regierung rückt nach rechts

Anders als in Deutschland gibt es keine Partei, die einer multikulturellen Gesellschaft das Wort redet. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Opposition stärker betont, es müssten integrierende Maßnahmen ergriffen werden. Hier passierte bisher wenig, da Politik und Gesellschaft Ausländer überwiegend als „Gastarbeiter“ sehen. Doch der Wahlerfolg der Sanseito löste einen Rechtsruck in der Regierung aus. Die LDP hob die als konservative Hardlinerin geltende Sanae Takaichi auf den Schild, die mit der ebenfalls konservativen Nippon Ishin no Kai (Japan-Erneuerungspartei) eine neue Regierungskoalition schmiedete.

In ihrer ersten Parlamentsrede versprach Takaichi einen harten Umgang mit Ausländern. „Durch den Bevölkerungsrückgang sind einige Wirtschaftsbereiche auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Auch der Tourismus von Ausländern ist wichtig“, sagte Takaichi. „Allerdings ist es ebenfalls eine Tatsache, dass durch illegale Handlungen oder Regelverstöße einiger Ausländer die Bürger Unruhe oder ein Gefühl von Ungerechtigkeit empfinden. Wir grenzen uns klar von Fremdenfeindlichkeit ab, werden solchen Handlungen aber als Regierung mit Entschiedenheit begegnen.“

Deckel für Zuwanderer in Sicht

Die LDP und ihr neuer Partner Ishin vereinbarten ein „Hauptquartier gegen den Bevölkerungsrückgang“ im Premierministeramt, das bis Anfang 2027 „numerische Ziele“ für die Aufnahme von Ausländern festlegen soll. Das Hauptkriterium sollen „mögliche soziale Spannungen“ sein. Anders gesagt: Die Zahl der Zuwanderer wird gedeckelt – die Sanseito zum Beispiel forderte eine Begrenzung auf 5%. Erstmals verankerte Takaichi die Migration im Kabinett und ernannte eine „Ministerin für eine geordnete und harmonische Koexistenz mit ausländischen Staatsangehörigen“. Die Signale kommen bei den Wählern an. Die Unterstützungsrate für die Sanseito fiel um fast die Hälfte auf nur noch 6%.

Die Regierung nimmt also lieber wirtschaftliche Nachteile durch einen höheren Arbeitskräftemangel in Kauf, als dass Rechtspopulisten noch stärker werden. „Japan ist nicht bereit, seine Gesellschaft radikal zu transformieren, um eine große Zahl von Ausländern als Bürger und nicht als Gastarbeiter aufzunehmen“, heißt es in einer neuen Studie von Oxford Economics. Japan müsste jährlich 500.000 Ausländer aufnehmen, damit sich die Zahl der Erwerbsfähigen in den 2040er Jahren stabilisiert. Dabei würde sich der ausländische Bevölkerungsanteil bis 2060 aber auf 30% verzehnfachen. Das hält Studienautor Norihiro Yamaguchi „angesichts der politischen Lage und der jüngsten Wahlerfolge nationalistischer Politiker sowie der derzeit geringen Einbürgerungsmöglichkeiten für Inhaber von Arbeitsvisa (…) für höchst unrealistisch“. Ein wirklichkeitsnäherer Zuzug von jährlich durchschnittlich 150.000 Ausländern könnte den Mangel an Arbeitskräften aber nur teilweise beheben. Bei dieser Annahme wird laut Yamaguchis Kalkulation die erwerbsfähige Bevölkerung bis 2035 um 8% und bis 2045 um 15% schrumpfen.