Das Finanzdesaster nach der Atomkatastrophe
Von Martin Fritz, Tokio
In zwei Wochen beginnt in Japan der Fackellauf für die verschobenen Olympischen Sommerspiele. Vom nationalen Fußballtrainingszentrum J-Village 20 Kilometer südlich des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi tragen die Läufer die Fackel durch Fukushima und im Juli durch die nordöstliche Region Tohoku. Dieser Ablauf ist kein Zufall. Damit will die Regierung betonen, dass die Spiele auch dem Wiederaufbau nach der Dreifachkatastrophe vom März 2011 dienen. Damals erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,0 den Nordosten, das einen bis zu 40 Meter hohen Tsunami auslöste. 18500 Menschen starben. 160000 Menschen flüchteten, weil explodierender Wasserstoff in den Reaktorgebäuden die Umgebung radioaktiv kontaminierte.
Bei ihrem Lauf durch die Katastrophengebiete werden die Fackelträger bemerkenswerte Fortschritte sehen. Die 20-Kilometer-Sperrzone steht mit Ausnahme einiger Gebiete nahe dem AKW wieder offen. Bagger reißen Gebäude und Häuser ab, die durch Beben, Tsunami und Strahlung unbewohnbar sind. Die zahllosen Säcke mit Überresten der Dekontaminierung, die jahrelang die Landschaft verschandelten, sind weitgehend abtransportiert. Auf Feldern und Abhängen stehen Solaranlagen. Nördlich sind die meisten überschwemmten Siedlungen aus den Tsunami-Trümmern wiederauferstanden, nun geschützt von einer 395 Kilometer langen und bis zu 13 Meter hohen monströsen Betonmauer.
Aber der Preis für diese Erneuerung ist extrem hoch. Allein die Rechnungen für die neue Küstenmauer summieren sich auf 1,35 Bill. Yen (10,5 Mrd. Euro). Insgesamt hat die Regierung für die Wiederherstellung der Tsunami-Gebiete in zehn Jahren 32 Bill. Yen (248 Mrd. Euro) ausgegeben – weltweit war keine Katastrophe so teurer. Zur Finanzierung hat der Staat einige Anteile an der Post verkauft, aber vor allem spezielle Wiederaufbau-Anleihen aufgelegt. Diese Schulden stottern die Bürger seit 2013 über einen Aufschlag von 2,1% auf ihre Einkommenssteuer ab. Die Sondersteuer läuft bis 2037. Kurz nach der Katastrophe hatten Hunderte Ökonomen für eine solche Steuer plädiert, um die Staatsverschuldung einzudämmen. Zu den einsamen Warnern zählte Wirtschaftsprofessor Koichi Hamada, ein Vater der Abenomics-Politik. Eine Steuererhöhung nach einer Katastrophe wirke so negativ wie ein fiskalischer Sparkurs in einer Rezession, meinte Hamada.
Betreiberfirma im Fokus
Inzwischen wäre eine Debatte über den Sinn dieser Steuer dringend nötig, wenn man die extremen Finanzfolgen der Atomkatastrophe mit betrachtet. Ihre Kosten schätzt die Regierung auf 22 Bill. Yen (171 Mrd. Euro). Offiziell schultert sie davon nur ein Elftel, nämlich 2 Bill. Yen für die Dekontaminierung von 52 Städten im AKW-Umkreis. Aber in Wirklichkeit muss der Staat fast die gesamte Summe übernehmen. Denn der AKW-Betreiber Tepco kann seinen Anteil von 16 Bill. Yen niemals zahlen. Auf dem Papier hat die Regierung dem Stromkonzern zum Beispiel seine Entschädigungszahlungen an die AKW-Anwohner von bisher 7,4 Bill. Yen vorgestreckt. Die staatliche Gesellschaft NDF nimmt das Geld am Kapitalmarkt auf und leitet es an Tepco weiter. Aber die verlangte Rückzahlung ist utopisch, da der Versorger unterm Strich nur 50 Mrd. Yen jährlich verdient. Nicht nur das: Die NDF hält auch knapp 55% der Tepco-Aktien. Der Versorger gehört also letztlich dem Staat.
Die Regierung tut jedoch so, als ob Tepco unabhängig sei. Zugleich macht sie politische Vorgaben, die die Folgekosten der Kernschmelzen hochtreiben. Beispiel Zwischenlager für die Überreste der Dekontaminierung: Dafür kauft der Staat gerade eine Fläche groß wie 2200 Fußballfelder rings um die Atomanlage auf, um 14 Mill. Säcke mit den Überresten der Dekontaminierung zu lagern. Statt diese nur leicht verstrahlte Erde dauerhaft dort zu deponieren, wurde den Bewohnern von Fukushima versprochen, dass das Zwischenlager nur 30 Jahre bestehen bleibt. Dadurch entstehen enorme Kosten für die Wiederaufarbeitung der Erde, den neuerlichen Abtransport und den Bau eines Endlagers. Noch gravierender sind die Finanzfolgen der ebenfalls politischen Vorgabe, dass auf dem AKW-Gelände eine „grüne Wiese“ entstehen soll. Das heißt: Der geschmolzene Kernbrennstoff, das Corium, soll binnen 30 bis 40 Jahren geborgen und die Meiler abgebaut werden. Dafür sind 8 Bill. Yen (62 Mrd. Euro) veranschlagt, die Tepco ebenfalls allein zahlen soll. Ein Sechstel ist bereits ausgegeben.
Doch Experten halten eine Stilllegung bis 2051 für illusorisch. Schon die Bergung von 1000 abgebrannten Brennstäben aus den Abklingbecken in Reaktor 1 und 2 wird bis 2031 dauern. Bislang weiß Tepco nicht einmal genau, wo die fast 900 Tonnen Corium damals hingeflossen sind. Die geplante Öffnung der Druckbehälter von oben scheint unmöglich, da die Deckel selbst verstrahlt sind. Es existieren auch keine Technologien für eine Bergung des radioaktiven Materials. In der offiziellen Prognose fehlen zudem die Kosten für Aufbereitung, Verpackung und Lagerung des Atommülls. Dadurch verzehnfachen sich nach einer Kalkulation der japanischen Denkfabrik JCER die Gesamtkosten auf 80 Bill. Yen (620 Mrd. Euro). Wesentlich günstiger wäre es, zunächst 50 bis 100 Jahre abzuwarten – wie bei der britischen Atomanlage Windscale, die nach dem Feuer von 1957 nie abgebaut wurde. Doch die Regierung ignoriert solche Ratschläge und reitet den Staat lieber immer tiefer in ein gewaltiges Finanzdesaster hinein.