Russland

Der große russische Braindrain

Seit dem Ende der Sowjetunion sind Millionen Russen in mehreren Wellen emigriert. Seit Putins Herrschaft gehen vor allem Junge und Gebildete. Die Folgen sind gravierend.

Der große russische Braindrain

Von Eduard Steiner, Moskau

Seit dem Ende der Sowjetunion sind Millionen Russen in mehreren Wellen emigriert. Seit Putins Herrschaft gehen vor allem Junge und Gebildete. Die Folgen sind gravierend.

Denkt man sich in die russische Staatsführung hinein, kann man vielleicht sogar nachvollziehen, warum sie nicht nur Medien zu „ausländischen Agenten“ erklären und so als staatsfeindlich diskreditieren ließ, sondern auch das renommierteste Meinungsforschungsinstitut Levada Center. Mit seinen Umfragen nämlich fördert es die wahre Stimmung im Volk zutage. Und die kann mitunter auch unangenehm sein.

Zuletzt im Juni. Auf die Frage nach dem Wunsch zu emigrieren, antworteten 22% mit „Ja“ oder „Eher ja“. Das sind fast 50% mehr als 2017 und wieder so viel wie in den Jahren 2011 bis 2013, als der damalige politische Protest niedergeschlagen und die Aussicht auf einen politisch-ökonomischen Frühling verschwunden war. Unter den 18- bis 24-Jährigen wollen 48% emigrieren.

22% der Bevölkerung – das sind 32 Millionen Menschen. Würden sie tatsächlich gehen, wäre das ein unglaublicher Strom – den die Welt allerdings wohl nicht sehen wird. Denn eigentlich handelt es sich um einen „infantilen Traum“, wie Levada-Chef Lew Gudkow das Ergebnis interpretiert. Konkrete Schritte – Vorbereitung der Dokumente, Erlernen der Sprache – setzt nämlich nur ein Teil um. Eine Umfrage unter ihren Studierenden habe 2 bis 3% ergeben, sagte Michail Denisenko, Direktor des Instituts für Demografie an der Moskauer Higher School of Economics, zur „Börsen-Zeitung“. Und doch zeigt sich auch Denisenko alarmiert. Denn die Emigranten von heute seien vor allem jung und gebildet. „Das ist der Unterschied zu den späten 1980er und den 1990er Jahren.“ Die russische Emigration sei ein wahrer Braindrain.

600000 in zehn Jahren

Die statistische Erfassung ist kompliziert. Die russischen Behörden zählen nur diejenigen, die sich tatsächlich abmelden. Wissenschaftler hingegen stufen diejenigen als Emigranten ein, die sich im Ausland ordnungsgemäß anmelden. Demzufolge gingen laut Denisenko im vergangenen Jahrzehnt pro Jahr zwischen 60000 und 80000 Personen in den Westen – sprich in Länder außerhalb von Russlands GUS-Nachbarstaaten.

„Wenn die Zahlen nur annähernd stimmen, hat Russland ein gravierendes Problem. Denn es hat binnen eines Jahrzehnts 1% der ökonomisch aktiven Bevölkerung und außerdem die unternehmerischsten und innovativsten Leute verloren“, sagt Sergej Gurijew, Professor an der Pariser Hochschule Sciences Po, zur „Börsen-Zeitung“. Gurijew selbst ist 2013 emigriert. Später wurde er erster russlandstämmiger Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.

Wie viel eine Volkswirtschaft durch einen derartigen Braindrain verliere, ist laut Gurijew zwar nicht messbar. Und Russland stehe mit dem Problem, das alle Schwellenländer hätten, auch nicht allein da. Das Drama bestehe aber darin, dass Russland ein neues Wirtschaftsmodell jenseits von Öl und Gas brauche. Das aber könne nur vom Humankapital kommen. „Die vergangenen zehn Jahre haben gezeigt, dass die Machthaber keine Vision haben, eine Wirtschaft zuzulassen, in der sich die Talentiertesten selbst verwirklichen können. Und es zeichnet sich für die nächsten zehn Jahre nicht ab.“ Hauptmotiv für die Emigration bleibt daher der Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten, schließlich befindet sich das Land seit Jahren de facto in der Stagnation. Als zweites Hauptmotiv gilt die Attraktivität des Westens, auf dessen Migrationspolitik Ausreisewillige reagieren.

Und diese wandelte sich in den vergangenen 35 Jahren, in denen laut dem Soziologen Gudkow etwa vier Millionen Bürger Russland verlassen haben, gehörig. Am Ende der Sowjetzeit hatten Repatriierungsprogramme zu einer massenhaften ethnischen Auswanderung von Russlanddeutschen, Juden und anderen Gruppen geführt. Dazu kamen Flüchtlingsprogramme, von denen aber später nur das für Tschetschenen übrig blieb. Und Repatriierung betreibe heute auch nur noch Israel – weshalb es das einzige Land sei, das in den vergangenen Jahren ein starkes Wachstum an Immigranten aus Russland verzeichnet habe, wie Demograf Denisenko erklärt. In den anderen Hauptemigrationsländern (Deutschland, USA, Kanada) liege die russische Zuwanderung stabil auf relativ hohem Niveau. Während in den 1990er Jahren der Braindrain aus Wissenschaftlern und Fachleuten der Industrie bestanden hat, setzt sich er heute aus Wissenschaftlern, Studenten, IT-Fachleuten und Finanzexperten zusammen. „Die Auswahlkriterien der Zielländer sind strenger geworden“, so Denisenko: Gerade bei Ausbildung, Sprachkenntnis und Einkommensnachweis.

Dass Russland umgekehrt kaum einem Ausländer eine permanente Aufenthaltsgenehmigung erteilt, wird von Demografen und Ökonomen als kurzsichtig kritisiert. Russland hatte schon einmal eine andere Politik verfolgt: Im 18. Jahrhundert, als die deutschstämmige Zarin Katharina die Große Tausende deutsche Handwerker und Bauern ins Land geholt hat. Später, in der Sowjetzeit, wurden deren Nachkommen diskriminiert. Seit den 1980er Jahren emigrierten 2,3 Millionen von ihnen nach Deutschland. Von denen, die blieben, sind einige mächtig geworden. Der Gaskonzern Gazprom wird vom Russlanddeutschen Alexej Miller geleitet, die größte Bank Sberbank von seinem Landsmann Herman Gref.

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