Der Wahlkampf überschattet die spanische EU-Ratspräsidentschaft

Die Umfragen deuten auf einen Regierungswechsel in Spanien hin, mitten während der EU-Ratspräsidentschaft. Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat sich für Sánchez bislang nicht ausgezahlt.

Der Wahlkampf überschattet die spanische EU-Ratspräsidentschaft

Sánchez führt EU-Vorsitz und Wahlkampf zugleich

Der Linksregierung droht bei den Parlamentswahlen Ende Juli eine Niederlage

Von Thilo Schäfer, Madrid

Im Palacio de la Moncloa, dem Sitz des spanischen Ministerpräsidenten, ist von Vorurlaubsstimmung derzeit nichts zu spüren. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was hier gerade los ist“, klagte eine hochrangige Mitarbeiterin der Regierung Anfang der Woche in einem Briefing mit Journalisten. Am Samstag übernimmt Spanien den turnusgemäßen Vorsitz des Rates der Europäischen Union. Drei Wochen später finden dann die Parlamentswahlen statt, die Ministerpräsident Pedro Sánchez zur Überraschung von Freund und Feind nach der Schlappe der linken Parteien bei den Lokalwahlen im Mai um ein halbes Jahr vorgezogen hat. Die Vorbereitungen der EU-Ratspräsidentschaft verlaufen dennoch mit „absoluter Normalität“, wird im Moncloa-Palast versichert.

Ein Wahlkampf gleich zu Beginn des Ratsvorsitz ist nach Ansicht von Diplomaten nicht ideal, aber in der EU auch keine Seltenheit, wie Sánchez selbst unterstreicht. „Die Demokratie ist nie ein Problem. Das ist nicht das erste Mal, das Wahlen während einer EU-Präsidentschaft stattfinden“, sagte der Sozialist. So wurden etwa im ersten Halbjahr 2022 unter dem französischen Ratsvorsitz Parlament und Staatspräsident gewählt.

Sánchez hat jedoch die traditionelle Ansprache im Europaparlament zu Beginn der Ratspräsidentschaft auf September verschoben. Wenn die jüngsten Umfragen richtig liegen, ist es gut möglich, dass der Konservative Spitzenkandidat Alberto Núñez Feijóo die Rede in Brüssel hält. Sánchez hat vor zwei Wochen die Prioritäten der spanischen EU-Präsidentschaft in Madrid vorgestellt. Er will den von der EU eingeschlagenen Kurs zur „Reindustrialisierung“ Europas vertiefen, also strategische Branchen wie Halbleiter fördern und die Abhängigkeit von Handelspartnern wie China reduzieren. Für die spanische Regierung hat daher der Gipfel der EU mit der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) Mitte Juli in Brüssel große Bedeutung. Spanien will seine historischen Verbindungen zur Region einbringen, um die Handelsabkommen, etwa mit Chile oder Mexiko, voranzutreiben. Sánchez wird seine Wahlkampfagenda unterbrechen, um persönlich das Treffen mit den Lateinamerikanern, das erste seit 2015, zu leiten.

Des Weiteren müssen die Spanier die Reform des europäischen Fiskalpaktes zum Abschluss bringen, da die neuen Regeln 2024 gelten sollen. Madrid plädiert für flexiblere, auf mehrere Jahre ausgelegte Vorgaben für Staatsdefizit und Schulden. Sánchez will sich auch für eine Mindestbesteuerung von Unternehmen einsetzen, um dem Wettbewerb innerhalb der EU entgegenzuwirken. Ein weiteres Ziel der Spanier ist die Reform des europäischen Energiemarktes, wo man jedoch auf harten Widerstand von Ländern wie Deutschland stößt. Schon vor der Explosion der Gaspreise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine hatten die Spanier für eine Entkopplung der Gastarife im europäischen Preisfindungsmechanismus plädiert. Madrid und Portugal erkämpften sich in Brüssel eine „iberische Ausnahme“ von dem Mechanismus, was sich spürbar in niedrigeren Strompreisen niedergeschlagen hat.

Nicht allein wegen der Stromkosten hat Spanien die Preissteigerung weitaus besser unter Kontrolle gebracht als die europäischen Nachbarn. Im Juni sank die Inflationsrate sogar auf 1,9%, wie das Nationale Statistikamt INE am Donnerstag bekannt gab. Am Dienstag verlängerte das Kabinett Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung, die den Staat knapp 9 Mrd. Euro bis Ende des Jahres kosten. Spanien verzeichnet mit das beste Wirtschaftswachstum in Europa, mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 4,2% im ersten Quartal. Im Gegensatz zur Finanzkrise ging die Arbeitslosigkeit trotz der Mehrfachkrise durch Pandemie, Krieg und Inflation zuletzt sogar zurück, obwohl die Erwerbslosenquote von 13,2% weiterhin einen Spitzenwert in Europa darstellt. Die Sozialversicherung zählt mit fast 21 Millionen so viele Beitragszahler wie noch nie. Daran hat auch die Reform des Arbeitsmarktes der Linksregierung einen Anteil, die entgegen den Bedenken vieler Experten zu einer Verringerung der chronisch hohen Zeitarbeit beigetragen hat. Die ebenfalls stark kritisierte Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes von 36% seit dem Amtsantritt von Sánchez 2018 hat keine negativen Spuren hinterlassen.

Der Ministerpräsident und seine Strategen verließen sich offenbar auf die im europäischen Vergleich recht positive wirtschaftliche Entwicklung des Landes, um bei den kommunalen und regionalen Wahlen erfolgreich zu sein. Doch die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE von Sánchez und das Linksbündnis Unidas Podemos wurden an den Urnen abgestraft und verloren in mehreren Regionen und einer Vielzahl von Rathäusern die Macht. Die konservative PP und die rechtsextreme Vox machten nämlich einen Wahlkampf mit identitären Themen, spanischem Nationalismus gezielt auf die Abkommen der linken Minderheitsregierung mit katalanischen und baskischen Separatisten, auf deren Stimmen im Parlament sie angewiesen war.

Bündnis mit Rechtsextremen

In fast allen Umfragen liegt die PP von Núñez Feijóo deutlich vorn. Doch wird sie für eine Mehrheit im Parlament wahrscheinlich auf Vox angewiesen sein. Die „roten Linien“ gegenüber den Rechtspopulisten sind nach den Regional- und Lokalwahlen gefallen. Die PP regiert nun vielerorts mit Vox, etwa in der Region Valencia. Die Konservativen haben große Zugeständnisse gemacht. So wurden in vielen Rathäusern die Regenbogenflaggen zur Unterstützung der LGTBI-Bewegung entfernt und Ämter für die Gleichberechtigung abgeschafft. Die Verhandlungen zwischen den beiden Parteien wirkten vielerorts chaotisch.

Sánchez und die Linken bauen nun darauf, dass die Angst vor den Rechtsextremen ihre Wählerschaft am 23. Juli mobilisieren wird. Außerdem haben sich die Parteien links der PSOE zu einem neuen Bündnis namens Sumar unter Führung der populären Arbeitsministerin Yolanda Díaz zusammengetan, wovon man sich ebenfalls neue Impulse erhofft.

Núñez Feijóo hält sich bei wirtschaftspolitischen Ansagen bedeckt. Er will die Steuern senken, hat bislang aber nur konkretisiert, dass dies für Einkommen bis 40.000 Euro gilt. Die Analysten von UBS versprechen sich von den Steuersenkungen eine Schubwirkung auf den Binnenkonsum. Die Kollegen von Barclays dagegen meinen, dass Spanien keinen fiskalischen Spielraum für Erleichterungen habe.

Auf die EU-Präsidentschaft wird ein möglicher Machtwechsel kaum Auswirkungen haben, versichern Diplomaten in Madrid. Sollte Núñez Feijóo im September als neuer Regierungschef eingeschworen werden, ist das Halbjahr schon weit fortgeschritten. Der Konservative versicherte am Donnerstag in Brüssel, dass ein Team bereits an einer Stabsübergabe des EU-Vorsitz arbeite. „Wir können keine Minute Zeit verlieren, damit ein möglicher Regierungswechsel das Ansehen unseres Landes nicht beschädigt.“

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