Die EU wird für Food-Startups zur größten Hürde
Die EU wird für Food-Startups zur größten Hürde
Die EU wird für Food-Startups zur größten Hürde
Der Mensch braucht zwingend Proteine, doch mit dem Bevölkerungsanstieg und Klimawandel wird die Versorgung künftig schwierig. Wissenschaftler und Startups haben zwar längst Ideen entwickelt, wie sich die Produktion auch ohne Landwirtschaft ankurbeln lässt. In der EU macht ihnen die Bürokratie das Leben allerdings besonders schwer.
Von Karolin Rothbart, Frankfurt
Es ist schon ein wenig sonderbar. Laut dem Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung gab es in Deutschland zuletzt kaum eine Branche, die so innovationsarm war wie die Lebensmittelindustrie. Der Anteil jener Unternehmen, die die Forscher als „innovativ“ bezeichnen, belief sich 2023 auf gerade mal 38%. In der Gesamtwirtschaft waren es 51%.
Dabei steht der Sektor vor großen Herausforderungen. Der Klimawandel erschwert die landwirtschaftliche Produktion von Lebensmitteln zunehmend. Die nutzbaren Flächen werden pro Kopf knapper und die Preise, unter anderem für Rindfleisch, sind zuletzt deutlich gestiegen. Gleichzeitig wächst – mal mehr, mal weniger – der Wunsch nach umweltfreundlicheren Produktionsmethoden.
Noch sonderbarer ist, dass die Wissenschaft schon längst verschiedenste Methoden hervorgebracht hat, mit denen sich etwa Proteine für den menschlichen Verzehr deutlich effizienter als in der Landwirtschaft herstellen lassen. Als Beispiel sei sogenanntes Laborfleisch genannt, das mittels Kultivierung tierischer Zellen entsteht. Oder auch die Fermentation diverser Ausgangsstoffe wie Pilze oder deren unterirdisches Geflecht, wodurch in kürzester Zeit viel proteinreiche Biomasse heranreifen kann.
Arznei-Zulassung geht schneller
Allein, für einen wirtschaftlichen Durchbruch solcher Methoden müssen auch die Behörden mit ihren Genehmigungsverfahren mitspielen. Und gerade in der EU wird das Thema für Startups zunehmend zum Albtraum. Grund ist unter anderem die 2015 in Kraft getretene Novel Food-Verordnung, die vorschreibt, dass neuartige Lebensmittel einer gesundheitlichen Bewertung unterzogen werden müssen, bevor sie in der EU in Verkehr gebracht werden dürfen. Laut Definition sind alle Lebensmittel betroffen, die nicht vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der EU für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die in verschiedene Kategorien fallen. Dazu gehören etwa Lebensmittel aus Mikroorganismen, Pilzen oder Algen, Lebensmittel aus Pflanzen oder Tieren und Lebensmittel aus Zell- oder Gewebekulturen.
Und dieser Novel-Food-Zulassungsprozess dauert. Konkret waren es im Schnitt zuletzt 2,56 Jahre, wie Wissenschaftler in einem „Nature“-Artikel herausgestellt haben. Umgerechnet sind das deutlich über 900 Tage. Laut der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA belief sich die durchschnittliche Verfahrensdauer für die Zulassung eines Medikaments im vergangenen Jahr auf 434 Tage.
Gerade für junge Unternehmen, die nicht über die gleichen finanziellen Mittel wie große Konzerne verfügen, sei das ein Problem, sagt Philip Tigges. Der früher in der Unternehmensberatung tätige Manager ist seit 2021 Finanzchef beim Hamburger Food-Startup Infinite Roots. Er glaubt, dass viele Startups deswegen auch mit dem Gedanken spielen, komplett in Drittländer abzuwandern.
Novel Food oder nicht Novel Food?
Bei Infinite Roots habe man selbst schon vor dieser Entscheidung gestanden. Das 2018 gegründete Unternehmen hat sich der industriellen Produktion von auf fermentiertem Pilzmyzel basierenden Proteinen verschrieben. Beim Pilzmyzel handelt es sich um das unterirdische, fadenartige Geflecht unter dem sichtbaren Pilz-Fruchtkörper. In Singapur, Japan und Südkorea hat das Startup bereits die Zulassung erhalten. In den USA darf es die Produkte ebenfalls schon verkaufen.
In Europa liefen die Dinge jedoch anders. Hier hat Infinite Roots bereits einen behördlichen Spießrutenlauf hinter sich – noch bevor die Zulassung für das Produkt überhaupt beantragt ist. Stattdessen galt es für die Hamburger zunächst herauszufinden, ob sie mit ihrem Produkt überhaupt unter die Novel-Food-Verordnung der EU fallen, oder ob die Freigabe durch die nationalen Lebensmittelbehörden genügt.
Das ist insofern wichtig, als Lebensmittel-Unternehmen für den Zulassungsprozess unterschiedliche Dossiers mit unterschiedlichen Daten und Nachweisen rund um das Produkt einreichen müssen. Die im Rahmen der Novel-Food-Verordnung geforderten Dossiers gelten dabei in der Regel als deutlich umfangreicher und detaillierter. Bei Infinite Roots schätzt man die Kosten für die Erstellung eines solchen Dossiers auf 200.000 Euro.

Bis klar war, wer für die Zulassung der Infinite Roots-Produkte zuständig ist, hat es jedenfalls gedauert. „Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass die Verantwortlichkeit bei der EU liegt und wir damit das Novel Food-Verfahren durchlaufen müssten“, erzählt Tigges. „Entsprechend haben wir ein Novel-Food-Dossier vorbereitet.“ Vor der Fertigstellung sei man an die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) herangetreten, um dort einen ersten Einblick zu geben.
Die EFSA habe jedoch entschieden, dass es sich bei dem Produkt von Infinite Roots letztlich um essbare Pilze handelt, und das Startup an die zuständige deutsche Lebensmittelbehörde – das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) – verwiesen. „Beim BVL haben wir dann ein weiteres Dossier eingereicht“, erzählt Tigges. Darin ging es darum, „darzulegen, dass der über Fermentation hergestellte Pilz sich nicht von vor 1997 verkauften Pilzen unterscheidet“.
Vier Monate nach Einreichung habe das BVL in einem Zwischenbescheid erklärt, dass man tatsächlich nicht davon ausgehe, dass es sich bei dem Produkt von Infinite Roots um ein Novel-Food-Produkt handelt. Für eine finale Entscheidung müsse man sich aber nochmal mit den anderen EU-Ländern abstimmen.
Die Abstimmung erfolgte. Das Ergebnis lautete, dass es sich bei dem fermentierten Myzel von Infinite Roots nun doch um ein Novel-Food-Produkt handelt. Und damit wieder die EU zuständig ist.
Frage der Verhältnismäßigkeit
„Es fühlt sich alles an, wie in einem Hamsterrad, in dem wir seit Jahren stecken“, sagt Tigges. Denn parallel zur Arbeit rund um die Zulassung feile man bei Infinite Roots auch weiter an der Optimierung des Fermentationsprozesses. „Diese Anpassungen führen dazu, dass wir das Dossier für die Novel-Food-Zulassung jetzt wieder anpassen müssen.“ Aktuell sei man in der Finalisierung der neuen Version.
Ein solcher bürokratischer Aufwand könne eine Organisation komplett lahmlegen, sagt Tigges. Und er sei gerade bei risikoärmeren Anwendungen unverhältnismäßig. Denn im Fall von Infinite Roots gehe es eben nicht um ein Arzneimittel, sondern um die Fermentation des Myzels essbarer Pilze. Dieses sei "faktisch identisch mit Pilzen“, sagt Tigges. Es gebe keine genetische Modifikation. „Wir kultivieren das Pilzmyzel in geschlossenen Bioreaktoren und unter kontrollierten Bedingungen. Es funktioniert wie in einem Einmachglas, ganz ohne Chemie.“
Bei Bluu Seafood argumentiert man ähnlich. Das 2020 gegründete Startup mit Sitz in Hamburg produziert Fischprodukte, die auf kultivierten Fischzellen basieren – das Ganze findet ebenfalls im Bioreaktor statt. Zu den ersten Produkten gehörten Fischstäbchen und -bällchen.
„Es geht hierbei um Zelltechnologie. Das ist im Wesentlichen Biotechnologie, verbunden mit Lebensmitteltechnik“, erklärt Christian Dammann, Chief Technology Officer bei Bluu. Dieselben Technologien kämen auch bei der Produktion von Bier oder Joghurt zum Einsatz. „Es geht immer um Zellen – im Falle von Bier geht es um Hefezellen, bei Joghurt um Milchsäurebakterien und bei uns geht es eben um Zellen aus Forellen“, so Dammann. „Die Zellen schwimmen in einer Nährlösung und sollen sich darin vermehren. Es ist vom Verfahren her überhaupt nichts Neues und wir verwenden unveränderte Non-GMO Fischzellen.“ Non-GMO, das steht für nicht gentechnisch verändert.
„Alkohol hätte keine Chance“
Dass solche kultivierten Fischzellen als Novel Food gelten und die Unbedenklichkeit des Verzehrs erst bewiesen werden muss, sei „schon ein bisschen surreal“, findet Dammann. Aber Europa habe nun mal die weltweit strengsten Vorgaben für Lebensmittel und im Novel-Food-Verfahren werde „alles bis ins kleinste Detail untersucht“. Andere Lebensmittel, die vor Inkrafttreten der Verordnung auf den Markt gekommen sind, „würden da niemals durchkommen“, fügt der CTO hinzu. „Alkohol hätte beispielsweise überhaupt keine Chance, weil es ein Zellgift ist.“
Bluu Seafood will nun in etwa den gleichen Weg gehen, wie Infinite Roots: Das Startup strebt als erstes die Zulassung in Singapur an, danach in den USA, später in Großbritannien und als letztes in Europa. In Singapur soll die Freigabe noch 2026 kommen, so zumindest die Hoffnung.
Infinite Roots hat sich derweil gegen eine Abwanderung ins Ausland entschieden. Stattdessen setzt das Startup vorerst auf den Verkauf von Pilz-Produkten ohne Pilzmyzel. Es ist eine Art Zwischenlösung in Form von Pilz-Bällchen, Pilz-Currywurst oder Pilz-Hack. „Die theoretischen Möglichkeiten der Biotechnologie werden mit diesen Produkten aber nicht ausgeschöpft“, räumt Tigges ein. „Denn Pilze brauchen im konventionellen Anbau, je nach Spezies, mehr als 40 Tage, um so weit zu wachsen, dass man sie verwenden kann. Mit fermentiertem Myzel lässt sich der Prozess auf drei Tage reduzieren.“
Die theoretischen Möglichkeiten der Biotechnologie werden mit diesen Produkten nicht ausgeschöpft.
Philip Tigges, CFO Infinite Roots
Bleibt unter anderem die Frage, ob die Investoren das Unternehmen auf dem Weg zum Zulassungsantrag besser hätten unterstützen können. Immerhin handelt es sich teils um echte Veteranen der Lebensmittelbranche. So sind Anfang vergangenen Jahres die Dr. Hans Riegel Holding von der Haribo-Gruppe und die Supermarktkette Rewe im Rahmen einer 58 Mill. Dollar-Finanzierungsrunde bei Infinite Roots eingestiegen.
Doch Tigges verneint. „Es gibt niemanden in der Industrie, der in Novel-Food-Fragen wirklich tiefgehende Erfahrung hat“, sagt er. „In unserem Fall hat sich zum Beispiel Rewe stark für uns eingesetzt und auch dabei geholfen, uns an die Politik zu wenden.“ Man habe sogar Gespräche bis ins Bundeskanzleramt geführt.
Veränderungswille ist da
Für das Verhalten der Behörden haben Tigges und Dammann ebenfalls Verständnis. Auf beiden Ebenen, also sowohl national als auch auf EU-Ebene, seien diese in ihren Strukturen „überhaupt nicht auf den großen Schwung an Patent- und Zulassungsanträgen ausgelegt“, sagt Tigges.
Und der Schwung war zuletzt wirklich groß: Die Zahl der Patentanmeldungen im Bereich alternative Proteine ist in Europa in der vergangenen Dekade um 960% auf 1.191 im Jahr 2024 gestiegen, wie Zahlen der Organisation Good Food Institute zeigen. Jährlich kommt es jedoch nur bei einem Bruchteil zur Patenterteilung.

Die Behörden würden die Probleme jedoch sehen und seien an einer Zusammenarbeit interessiert, sagt Dammann. „Wenn man mal nach Brüssel geht und mit den Leuten redet, dann merkt man, dass sich eigentlich viele über vieles einig sind." Doch für die Behördenmitarbeitenden gebe es eben zahlreiche Auflagen zu beachten, bei denen es um ganz unterschiedliche Aspekte wie beispielsweise auch Korruptionsvermeidung geht. „Und am Ende reden in der finalen Entscheidung dann 27 Mitgliedstaaten mit. Das ist ein Problem“, sagt Dammann.
Ein Zeichen für den politischen Veränderungswillen ist aus Sicht von Tigges der aktuell diskutierte Biotech Act, eine Verordnung, die die Wettbewerbsfähigkeit der Branche stärken und regulatorische Hürden abbauen soll. Die Verordnung, zu der noch bis zum 10. November öffentliche Konsultationen laufen, sieht sogenannte regulatorische „Sandboxes“ vor – zu deutsch: Sandkästen. Damit sind Experimentierklauseln gemeint, mit denen innovative Biotechnologie-Produkte unter Aufsicht der Behörden am Markt getestet werden können, ohne dass sie vorher den kompletten Zulassungsprozess durchlaufen müssen. „Das wäre ein guter Schritt in die richtige Richtung“, sagt Tigges.
