Russland zwischen Ungleichheiten und großen Geistern
Notiert in Moskau
Die Ungleichheiten und die großen Geister
Von Eduard Steiner
In dem Land, in dem einst der gleichmacherische Sozialismus herrschte, in dem Wladimir Putin sozialisiert wurde, ist heute die Ungleichheit noch viel größer, als sie es damals realiter schon war. Zwei Dinge illustrieren das wieder einmal: Da ist zum einen – wie die Tageszeitung „Izvestija“ kürzlich eruierte – das Faktum, dass Sets zur Do-it-yourself-Behandlung von Zähnen beliebter werden, um so Geld für den immer teureren Zahnarzt zu sparen. Und andererseits floriert der Markt für plastische Chirurgie. Wobei paradoxerweise der Krieg dazu geführt hat, dass Schichten mit geringem Einkommen eine rasante Aufstiegsmöglichkeit, kräftig steigende Löhne für den Fronteinsatz und lukrative Jobs in Rüstungsfabriken der Provinz erhielten.
Mangelnde Migration
Demgegenüber ist eine andere Ungleichheit in den vergangenen Jahren wieder größer geworden – die zwischen Einheimischen und Arbeitsmigranten. Der Grund war hier gar nicht der Ukrainekrieg, der Migranten von Russland fernhält, weil diese einen unfreiwilligen Fronteinsatz befürchten. Der Grund ist vielmehr der Terroranschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau mit 140 Toten im März 2024. Im Anschluss hat Russland seine Gesetze gegen Arbeitsmigranten extrem verschärft.
Am Ende ist das ein Schuss ins eigene Knie. Denn Russland hat einen massiven Arbeitskräftemangel. Der wäre auch ohne Ukrainekrieg groß gewesen, weil sich die Geburtendelle der 1990er Jahre derzeit mit aller Wucht auswirkt. Aber der Ukrainekrieg verschärfte den Mangel, weil erstens viele an der Front sind, zweitens viele vom Staat in den Rüstungssektor gelockt wurden und drittens eine Million junger Männer vor dem Krieg ins Ausland geflüchtet und nur ein Teil wieder zurückgekommen ist.
Sinkende Produktivität
Mit Modernisierung und Automatisierung könnte der Mangel wenigstens teilweise behoben werden. Weil aber seit Kriegsbeginn kaum noch ausländische Direktinvestitionen und entsprechend wenig Technologie ins Land kommen, steigt die Arbeitsproduktivität kaum noch. In den Nullerjahren noch um jährlich über 6% gewachsen und nach der Krim-Annexion um 2%, stieg sie seit Kriegsbeginn um gerade noch 0,4%, wie Ex-Zentralbankvize und Ökonom Oleg Vjugin kürzlich in einem Interview erklärte. Das werde sich wohl kaum ändern, weil Russland auf isolationistische und protektionistische Politik setze: „Die Geschichte hat gezeigt, dass das völlig nutzlos und eine Sackgasse ist.“
Russland und seine Wirtschaft brauchen wieder Öffnung. Und es möge sich daran erinnern, dass viele große Geister im Land gerade keine ethnischen Russen waren, wie Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der Zeitung „Nezawisimaja Gazeta“, in einer langen Auflistung als Antwort auf einen Neonationalismus à la „Russland für die Russen“ schrieb und zum Ergänzen der Liste aufforderte. Hier gilt es darauf hinzuweisen, dass viele namhafte Russen aus der Ukraine kommen, weil es sie nach Russland zog und sie dort größere Entfaltungsmöglichkeiten hatten.