Draghi oder das Chaos
Italien ist innerhalb kaum eines Jahres vom europäischen Sorgenkind zum Wunderknaben geworden. Die Wirtschaft wächst 2021 um mindestens 6,2%, jahrzehntelang liegen gebliebene Reformen werden in Angriff genommen und die vierte Welle der Corona-Pandemie hat Rom bisher viel besser im Griff als die EU-Partner.
Doch die Unsicherheiten nehmen zu. Der Zinsabstand zwischen deutschen und italienischen Zehnjahresanleihen (Spread) steigt seit Wochen. Immer mehr Ökonomen sehen dunkle Wolken aufziehen. Ihre Befürchtung ist, dass Premierminister Mario Draghi, der Erfolgsgarant der positiven Entwicklung, Nachfolger von Staatspräsident Sergio Mattarella werden will. Dessen Amtszeit endet am 3. Februar 2022. Sollte Draghi das Amt anstreben, kann es ihm keiner verwehren. Doch Italien hätte dann ein Problem: Wer soll die Regierungsgeschäfte übernehmen?
Niemand in Italien genießt international ein vergleichbares Ansehen, ist in der Bevölkerung annähernd so beliebt und hat eine Autorität wie Draghi. Das aber ist die Voraussetzung dafür, dass die Mittel des EU-Wiederaufbauprogramms, dessen Hauptnutznießer Italien mit rund 200 Mrd. Euro ist, weiter fließen. Er will, zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts aufweichen und Transferleistungen innerhalb der EU verstetigen. Nur er kann das alles schaffen. Das wissen die sonst so zerstrittenen Parteien, die sich deshalb in seltener Eintracht dafür aussprechen, dass Draghi bis zu den Parlamentswahlen Anfang 2023 Premierminister bleibt. Doch Draghi lässt offen, was er vorhat.
Sollte er als Staatspräsident kandidieren, drohen Neuwahlen. Die aber will außer der postfaschistischen Oppositionspartei Fratelli d’Italia, die mit starken Zugewinnen rechnen kann, niemand. „Draghi oder das Chaos“ lautet der Titel eines Buches, der das Dilemma beschreibt.
Dass alles an einer Person hängt, die auch schon 74 ist, zeigt, wie fragil die Lage Italiens ist. Zudem basiert die zuletzt so positive Entwicklung auf Sonderfaktoren. Das starke Wachstum liegt auch daran, dass die Wirtschaft 2020 so stark geschrumpft war – um 9%. Entscheidend sind aber die umfangreichen Hilfen aus Europa und auf nationaler Ebene sowie die sehr expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die dem Land trotz einer Verschuldung von 155% des Bruttoinlandsprodukts sehr, sehr günstige Refinanzierungsbedingungen sicherstellt. Die EZB hält inzwischen außerdem ein Viertel der italienischen Staatsanleihen.
Draghi heizt das Feuer noch an. Die öffentlichen Ausgaben wachsen massiv. Im Haushalt für 2022 fließt der Großteil der Neuverschuldung von 23 Mrd. Euro in Steuersenkungen für den Mittelstand und großzügige Sozialleistungen wie das Bürgergeld sowie Milliardenhilfen an die Bürger zum Ausgleich der steigenden Energiepreise. Viel wichtiger wäre es, die Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaft, deren Produktivität seit 20 Jahren stagniert, zu verbessern und ein glaubhaftes Programm zum Schuldenabbau zu präsentieren. Auch müsste das Renteneintrittsalter, das unter der Populistenregierung von Lega und 5 Sternen auf 62 Jahre abgesenkt worden war, angehoben werden. Doch das traut sich auch Draghi nicht und nimmt nur vorsichtige Korrekturen vor. Er hofft, seine expansive Politik möge für anhaltendes Wachstum sorgen und damit ließen sich die Schulden später reduzieren. Führende Ökonomen bezweifeln, dass die Rechnung aufgeht, und erwarten eine deutliche Abflachung der Wachstumskurve.
Es kommt hinzu: Auch die Reformen stocken. Bisher ist nur etwa die Hälfte der bis Jahresende angekündigten Pläne auf den Weg gebracht worden. Es gibt Zweifel, dass die schwerfällige Verwaltung in der Lage sein wird, die europäischen Mittel auszugeben.
Die anhaltende Inflation könnte Italiens Erholung schon kurzfristig gefährden. Irgendwann muss die EZB reagieren. Das Notfallankaufprogramm der EZB wird voraussichtlich bald enden. Das und mögliche Zinserhöhungen würden den Spread nach oben treiben und die Refinanzierungsbedingungen verschlechtern.
Italien braucht die europäischen Transferleistungen und die dank der EZB günstigen Refinanzierungsbedingungen wie der Junkie seine Drogen. Draghi ist der Garant dafür, dass dies zumindest einstweilen so bleibt. Doch er ist kein Wundermann und seine Tage sind gezählt, egal ob er für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert oder nicht. Leider spricht vieles dafür, dass nach ihm das alte Chaos zurückkommt.